Die Entwicklungskrise der Dritten Welt kann nur mit erneuerbarer Energie gelöst werden
Die Entwicklungsländer haben das Muster der Energieversorgung aus den Industrieländern übernommen. Das geschah in einem Zeitraum und unter Bedingungen, die eine Kopie dieses Prozesses eigentlich nicht mehr erlaubten. Die Belastungsgrenzen der Ökosphäre und die sich anbahnende Erschöpfung fossiler Energieträger machen das Modell nicht übertragbar. Und die dafür notwendige zentralisierte Infrastruktur ist nicht nur zu teuer, sondern zerstört auch die noch im ländlichen Raum verankerte Gesellschaft.
von Hermann Scheer
Die Entwicklungskrise der Dritten Welt ist nicht erklärbar ohne deren permanente Energiekrise. Diese Energiekrise ist eine dauerhafte Preiskrise und gleichzeitig eine grundlegende Krise der Struktur der Energiebereitstellung. Es ist eine Preiskrise, weil die Entwicklungsländer - wenn überhaupt - weitgehend dieselben Energiequellen wie die Industrieländer nutzen: Soweit sie diese importieren oder von den globalen Energiekonzernen geliefert bekommen, müssen sie trotz ihres erheblich niedrigeren Bruttosozialprodukts und geringerer Kaufkraft meistens die Weltmarktpreise zahlen, was sie wirtschaftlich überfordert. Es ist eine Strukturkrise, weil die Entwicklungsländer schon in ihrem vorindustriellen Entwicklungsstadium dieselbe Energieversorgung implantiert haben wie die Industrieländern erst in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer industriellen Entwicklung: Weil sie sich ein industrielles, zentralisiertes Energiesystems einpflanzten, war es den Entwicklungsländern nie möglich, eine ihren Ausgangsbedingungen entsprechende sozio-ökonomische Entwicklung zu erreichen.
Dieser Zusammenhang zwischen den Strukturen der Energieversorgung und der wirtschaftlichen Entwicklung ist vielen Menschen - bis weit in die Reihen der kritischen Entwicklungsökonomen hinein - nicht bewusst. Die wirtschaftssoziologische Bedeutung der Energieversorgungsstrukturen ist auch in der Wissenschaft eher eine Art terra incognita, ein weißer Fleck auf der Landkarte. Das weltweit dominante atomare und fossile Energiesystem wird zwar wegen seiner ökologischen Folgeschäden kritisch betrachtet, gilt aber doch den meisten als alternativlos, weil sie das Potenzial erneuerbarer Energien als unzureichend für die Befriedigung der Energiebedürfnisse ansehen. Aber das ist ein weit verbreitetes Vorurteil. Selbst wo mittlerweile erneuerbare Energien als mögliche Alternative wahrgenommen werden, glauben die meisten, dass deren Nutzung in etwa denselben Strukturen abläuft, wie sie zumindest für die fossilen Energien bekannt ist. Was allgemein als steigerungsfähig angesehen wird, ist die Effizienz der Energienutzung. Die Struktur der Energieversorgung der Industrieländer dagegen gilt als generell erstrebenswerter Fortschritt - und damit auch als Muster für eine Energiebereitstellung für die Entwicklungsländer.
Solange aber in solchen Mustern gedacht wird, bleibt insbesondere den Energie-Experten die Einsicht in den elementaren Zusammenhang zwischen der Entwicklungskrise und dem dominierenden atomaren und fossilen Energiesystem versperrt.
Die industrielle Revolution, die von England aus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeleitet wurde, war vor allem eine energietechnische Umwälzung. Mit der Einführung der berühmten James Watt'schen Dampfmaschine wurde eine bis dahin einmalige Steigerung der Energie-Effizienz möglich. Mit weniger Energie konnte wesentlich mehr geleistet werden. Die industrielle Massenproduktion konnte beginnen. Gleichzeitig konnten mit der Dampfmaschine die Transportpotenziale mittels Dampfschifffahrt und Dampfeisenbahn vergrößert und die Transportgeschwindigkeit erhöht werden. In einer späteren Phase wurde es möglich, die Dampftechnik auch zur Stromerzeugung zu nutzen. So wurde die Dampfmaschine zur treibenden Kraft des Industrialisierungsprozesses und seiner globalen Entfaltung.
Als Energieträger dafür wählte man - nach ersten Anfängen mit Holzkohle - die Stein- und Braunkohle. Dies war ein historischer Zufall, denn es spricht kein technisches Argument und auch keines der Energiepotenziale dagegen, dass nicht auch Pflanzenöl zur Energiequelle hätte werden können. Obwohl die Dampfmaschinen einen effizienteren Energieeinsatz ermöglichten, stieg mit ihrer Einführung der Energiebedarf. Mit ihrer Hilfe konnten die Produktionskosten gesenkt und deshalb die Produktion vervielfacht werden. Folglich wurde eine konzentrierte Energiebereitstellung immer notwendiger. So entstand eine Energiewirtschaft, und zwar zunächst als Kohlewirtschaft.
Die ersten industriellen Standorte entfalteten sich folglich auch dort, wo die Kohlebergwerke lagen. Von dem Zeitpunkt an, wo eine Infrastruktur für den Energietransport zur Verfügung stand, konnten sich die Produktionsstandorte auch räumlich verteilen. Mit der Entdeckung der energetischen Vorzüge des Erdöls gegenüber der Kohle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - es war leichter zu fördern und zu transportieren sowie effizienter zu handhaben - kam zur Kohlewirtschaft die Ölwirtschaft hinzu, später die Erdgaswirtschaft. Die Nachfrage nach diesen fossilen Energien stieg rasch an, vor allem nach der Entdeckung und Einführung weiterer Energiewandler, die im 20. Jahrhundert eine ebenso große Bedeutung wie vorher die Dampfmaschine errangen: Das waren der Verbrennungsmotor und - nach der Entdeckung des elektrischen Stroms - der Stromgenerator mit der darauf folgenden Elektrifizierung.
Dass fossile Energien - und nicht Bio-Energie wie etwa Pflanzenöl - zur Energiequelle der Motorisierung wurde, hatte inzwischen einen energiewirtschaftlichen Grund. Die Energiewirtschaft bot fossile Energien bereits für die Dampfmaschine an. Deshalb ging die Motorenentwicklung ebenfalls von diesen Energieträgern aus und nicht etwa von nachwachsenden Energieträgern. Die Elektrifizierung erfolgte zunächst auf lokaler Ebene, mit Hilfe von Wasserkraftwerken oder Kraftwerken, die mit fossiler Energie befeuert wurden; in großflächige Stromnetze wurde erst später investiert. Die Elektrifizierung startete also dezentral, vorwiegend durch Stadtwerke. Erst mit dem allmählichen Aufbau von lokalen, dann regionalen und schließlich nationalen Stromnetzen - ein Prozess, der viele Jahrzehnte dauerte - erfolgte parallel dazu die Ablösung zahlreicher kleiner Kraftwerke durch wenige Großkraftwerke. Diese konzentrierten die Stromproduktion dort, wo die dafür notwendige Primärenergie leichter verfügbar war, etwa an Stauseen, in der Nähe der Kohlebergwerke, der Ölraffinerien oder entlang der Öl- und Gaspipelines. Der wichtigste technisch-wirtschaftliche Grund dafür war, dass sich Strom wiederum leichter und schneller transportieren lässt als die in den Kraftwerken eingesetzte Primärenergie.
So entwickelten sich der Industrialisierungsprozess und die Strukturen der Energieversorgung auf den ersten Blick zwar ungefähr synchron. Tatsächlich ist aber klar erkennbar, was dabei jeweils der bestimmende Faktor war: die Dampfmaschine führte zur fossilen Energiewirtschaft, und diese stellte die Weichen für die weitere energietechnische Entwicklung. Die so entstandene Energiewirtschaft und die Energietechnik wiederum stellten die Weichen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Siedlungsentwicklung der Industriegesellschaften, in der sich aufgrund der immer konzentrierteren Energiebereitstellung Millionenstädte und Ballungszentren bildeten. Diese Entwicklung erfolgte in Form konzentrischer Kreise, die sich stetig ausdehnten, wie auch die Routen der Energietransporte immer länger wurden. Mit dieser Energie-Infrastruktur gelang es, Wachstumsgrenzen zu überspringen, die anfangs von nur lokal oder regional verfügbaren Energiepotenzialen gesetzt waren. Den Ländern, die zu den Vorreitern der Industrialisierung gehörten, stand damit zunehmend das globale Potenzial an fossilen Energiequellen - und schließlich auch das Uran als Ausgangsmaterial für die Atomkraftwerke - zur Verfügung. Seitdem ist der Unterschied zwischen Arm und Reich in der Weltwirtschaft immer größer geworden.
Die Entwicklungserfahrung der Industrieländer wurde zum Vorbild für die wirtschaftlichen Strategien der Entwicklungsländer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - und damit in einem Zeitraum und unter Bedingungen, die eine Kopie dieses Prozesses von Anfang an eigentlich nicht mehr erlaubten. Die begrenzte Belastbarkeit der Ökosphäre und die sich anbahnende Erschöpfung fossiler Energiepotenziale machen nicht nur deutlich, dass das Muster der Energiewirtschaft der Industrieländer nicht mehr auf die Entwicklungsländer übertragbar ist. Sie hätten auch längst schon bei den Verantwortlichen in den Industrieländern zur Erkenntnis führen müssen, dass der Wechsel zu erneuerbaren Energien unabwendbar ist.
Ein weiterer Grund für die Entwicklungsländer, einen anderen Weg einzuschlagen, müsste sein, dass sich für die Energiebereitstellung in den Industrieländern schon in den fünfziger Jahren global operierende Energiekonzerne gebildet hatten, die die Energiebereitstellung von der Quelle bis zum Energieverbrauch kontrollierten - ausgerichtet an eigenen Interessen und den Marktbedürfnissen der Hauptkonsumenten in den Industrieländern. Die Entwicklungsländer waren und sind mit einer Energiewirtschaft konfrontiert, die ihnen ihre Preise und ihre Strukturen diktieren kann, ihnen also nicht nur die Energie liefert, sondern auch die in den Industrieländern erprobte und entwickelte Energietechnik, die nur dem Entwicklungsstadium der Industriegesellschaft angepasst sind. Hinzu kommt, dass die Entwicklungsländer nicht die Zeit zur Verfügung haben, die die Industriegesellschaften für die Entwicklung ihres Energiesystems aufbringen konnten. Deren konzentrische Versorgungskreise haben sich, von dezentralen Standorten aus gebildet, nur allmählich zu einer zentralen Versorgungsstruktur verschmolzen. Ebenso allmählich erfolgte in den Industrieländern der Prozess der Ablösung einer vom Agrarwesen geprägten zur industriellen Wirtschaft und schließlich zur Dienstleistungsökonomie. Da den Entwicklungsländern schon in der Phase, in der die weit überwiegende Zahl ihrer Bewohner noch von der Landwirtschaft lebt, die Strukturen samt Techniken der industriellen und der Dienstleistungswirtschaft implantiert wurden, gerieten sie in eine existenzielle Falle, sowohl was ihren Umgang mit Energie angeht als auch ihre wirtschaftlichen Beziehungen:
Das Einpflanzen des industriellen Energiesystems in die Entwicklungsländer begann zentral, in den Städten. Das begehrte Medium dafür war die Stromversorgung. Strom ist aufgrund seiner einzigartigen Vielseitigkeit der attraktivste Energieträger. Die Stromerzeugung mit Hilfe großer Kraftwerke aus dem Stand aufzubauen, erschien als die große Chance, den Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung zu verkürzen. Die Städte wurden mit schnell hochgezogenen (und rasch verkommenden) Betonbauten "erschlossen", mit wuchernden Straßen- und Kabelnetzen, Siedlungsringen und Armutsvierteln um die Stadtzentren herum. Smog überwölkt Mexiko City, São Paulo, Lima, Kairo, Neu Delhi, Bombay, Djakarta, Istanbul oder Karachi. Städte, die die 10-Millionen-Einwohnergrenze längst überschritten haben, belegen eklatant die Aussichtslosigkeit des fossilen Zivilisationsmodells. Es gibt in der industriegesellschaftlichen Entwicklung kein Beispiel eines so rapiden Städtewachstums wie in Kairo, Mexiko City oder Sao Paulo, die in weniger als 40 Jahren von 2 bis 3 auf 16 bis über 20 Millionen Einwohner gewachsen sind.
In den Megastädten der Industriegesellschaften stagnieren dagegen die Bevölkerungszahlen, und in deren ländlichen Räumen lebt nach dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft nur noch ein geringer Teil der Bevölkerung. Die Megastädte der Dritten Welt aber sind mit weiterer Zuwanderung konfrontiert, der sie hilflos gegenüberstehen: Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt dort immer noch auf dem Land. In China, Indien, im übrigen Asien insgesamt und im subsaharischen Afrika sind es immer noch über 70 Prozent. Man kann sich die Folgen ausrechnen, wenn die Landflucht anhält. Aber ein Land gilt als besonders niedrig entwickelt, wenn der Anteil der ländlichen Bevölkerung sogar über 80 Prozent liegt - wie in Burundi, Ruanda, Burkina Faso, Uganda, Malawi, Nepal, Äthiopien, Niger, Eritrea, Tansania, Kenia, Bangladesch, Kambodscha oder Laos. Die Botschaft "Nichts wie weg" steckt unausgesprochen in dieser Kategorisierung - als wäre die Vorhölle der Großstadt-Slums eine höhere Entwicklungsstufe.
Mit der auf die Städte konzentrierten Energiebereitstellung - als der Kopie der modernen Energiesysteme der Industriegesellschaft - wurde die ländliche Entwicklung abgehängt. Die ländliche Bevölkerung kann sich die für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung notwendigen kommerziellen Energiequellen entweder gar nicht leisten, oder sie sind ihr mangels Infrastruktur nicht zugänglich. Diese strukturellen Ursachen der Landflucht und des katastrophalen Wachstums der Städte machen die Tragweite der energetischen Sackgasse für die gesamte Entwicklung der Dritten Welt sichtbar. Am härtesten trifft es Afrika, den ärmsten Kontinent. Aus dieser Sackgasse gibt es nur einen einzigen Ausweg: die Nutzung erneuerbarer Energien, sodass in den ländlichen Räumen Strom und Treibstoff für landwirtschaftliches, handwerkliches und kleinindustrielles wirtschaftliches Wachstum zur Verfügung stehen.
Es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, wenn diese fundamentalen Zusammenhänge in wissenschaftliche Betrachtungen über die Ursachen von Unterentwicklung und Gewaltexplosionen kaum einbezogen werden. Selbst im "Süd-Süd"-Bericht, der in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre unter dem Vorsitz des tansanischen Präsidenten Nyerere erarbeitet wurde und der den "Nord-Süd"-Bericht unter der Ägide Willy Brandts ergänzt, wird dem Energieproblem kaum Aufmerksamkeit gewidmet, und als Strukturproblem wird es gar nicht erst thematisiert.
Dass den meisten Ländern der Dritten Welt das Entwicklungsmodell der industriellen Revolution einfach übergestülpt wurde, ist zwar vielfach in all seinen kulturellen und sozialen Folgen beschrieben worden, ebenso wie die fehlgeschlagenen Versuche eines Entwicklungssozialismus. Diese fassten entweder die kleinbäuerlichen landwirtschaftlichen Strukturen zu Kollektiven zusammen, was einen Kulturbruch auslöste. Oder sie versuchten, diese Strukturen zu erhalten - allerdings ohne die dafür entscheidende Voraussetzung sicherstellen zu können, nämlich die technische und wirtschaftliche Verfügbarkeit von Energie für den Betrieb von Motoren, landwirtschaftlichen Geräten und Produktionsmaschinen. So arbeiteten die Kleinbauern und Handwerker immer unproduktiver und wurden damit an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sofern Energie technisch überhaupt verfügbar ist, kann die ländliche Bevölkerung diese im Regelfall kaum bezahlen.
Die Alternative dazu wäre gewesen - und ist es mehr denn je -, autonom arbeitende dezentrale Energiesysteme auf der Basis heimischer erneuerbarer Energie einzuführen. Die technischen Möglichkeiten dafür sind seit langem vorhanden, wie die Technikgeschichte solarer Energiesysteme zeigt - von Kleinwasserkraftwerken bis zu kleinen Windstromanlagen, von Biogasanlagen bis zu Motoren auf der Basis von Holzvergasung. Doch nur in wenigen Ländern wurden sie eingeführt, und auch dort nur zum Teil. Eine Ausnahme blieben etwa die vielen Millionen Biogasanlagen der chinesischen Kleinbauern. Doch auch diese beschränkten sich darauf, den Koch- und Wärmebedarf zu decken. Man dachte darüber hinaus nicht an Strom oder Treibstoffe aus den verfügbaren erneuerbaren Energien, womit arbeitserleichternde Geräte eingesetzt werden können.
"Moderne" zentrale Energiesysteme haben somit die wirtschaftliche Entwicklung von ihrer sozialen und kulturellen Basis entkoppelt. 97 Prozent der Stromerzeugungskapazität von Tansania beispielsweise steht allein den Städten zur Verfügung, auf die sich der Ausbau der Verteilernetze beschränkt hat - und aus wirtschaftlichen Gründen auch beschränken muss, solange die Elektrifizierung über zentrale Kraftwerke erfolgt. In Lesotho werden 93 Prozent des Stroms von Großwasserkraftwerken produziert und privilegieren damit strukturfremde wirtschaftliche und soziale Trends; nur 7 Prozent kommen aus strukturgemäßeren Kleinwasserkraftwerken.
Die Weltbank (und in ihrem Gefolge andere Entwicklungsbanken und die jeweiligen nationalen Entwicklungspolitiken) fördert diese energetische Fehlschaltung in enger Anlehnung an die Interessen der Industrieländer, ihrer Kraftwerks-, Motoren- und Elektrizitätsindustrie sowie ihrer Rohstoffkonzerne. Von den 292 Millionen US-Dollar, mit denen die Weltbank in den Jahren 1952 bis 1963 Projekte in Brasilien gefördert hat, wurden 264 Millionen allein für die Elektrifizierung durch große Kraftwerke verwendet. Ein Großteil der Entwicklungskredite zielte und zielt wie seit eh und je auf den Energiebedarf der Rohstoffkonzerne, um den Bedarf der Industrieländer an Rohstoffen aus der Dritten Welt sichern zu können. Viele Großkraftwerke wurden nur gebaut, um billigen Strom für die Bergwerke und die minennahe Metallaufbereitung bereitzustellen - mit fatalen Folgen für die Umwelt. Die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von den Ölmultis wurde verstärkt, wenn etwa Kredite für Straßen statt für Eisenbahnen vergeben wurden oder wenn Kredite für ihre eigenen Ölförderung oder den Aufbau von Raffinerien verweigert wurden, solange dies den Marktinteressen der westlichen Ölkonzerne entgegenstand. Ebenfalls unter deren starkem Einfluss finanzierte die Weltbank Düngemittelfabriken: Stolze 58 Prozent aller kreditfinanzierten Projekte entfielen im Jahr 1979 darauf. Statt des Kleinbauerntums wurde mit Vorrang das commercial farming gefördert, also der Einsatz landwirtschaftlicher Großgeräte und Pestizide auf Erdölbasis.
Dass diese Weltbank-Politik nicht auf die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre beschränkt blieb, zeigen neuere Analysen. So haben 1997 amerikanische und europäische nichtstaatliche Organisationen (NGOs) in einer Gemeinschaftsstudie ermittelt, dass die Weltbank seit der Verabschiedung der Weltklima-Konvention im Jahr 1992 Projekte zur Finanzierung von fossilen Energieanlagen unterstützt hat, die zu einer Steigerung klimazerstörender Emissionen führen. Mittlerweile sind zwar Kreditprogramme für erneuerbare Energien angelaufen. Aber immer noch fördert die Weltbank mit vielfach höheren Summen Investitionen in neue Erdöl- und Erdgasfelder, in den Kohlebergbau und in fossile Kraftwerke. Sie fördert darüber hinaus ausländische Beteiligungen und Übernahmen von Energieunternehmen in der Dritten Welt - und damit den Konzentrationsprozess in der globalen Energiekette. Bei nicht weniger als 90 Prozent der von der Weltbank geförderten Energieprojekte erhalten Energiekonzerne der sieben großen Industrienationen den Zuschlag. Nur 5 Prozent ihres Energieförderungsbudgets fließen in die ländlichen Räume der Entwicklungsländer, und nur 3 Prozent in Projekte erneuerbarer Energien. Zwar deckt die Weltbank mit ihren Krediten nur drei Prozent des globalen Finanzbedarfs für Energieinvestitionen, aber sie beeinflusst in hohem Maße die Kreditstrategien anderer Banken.
Dies alles geschieht, geradezu schizophren, ganz im Gegensatz zu hausinternen Analysen: Auch Weltbank-Experten haben längst festgestellt, dass die Energiebereitstellung durch erneuerbare Energien für die Mehrheit der Menschen in den ländlichen Räumen der Entwicklungsländer absolut notwendig ist. Und auch dies steht in Weltbank-Studien: Erneuerbare Energien seien nicht allein aufgrund ihrer Umweltfreundlichkeit dringlich zu fördern, sondern sie seien für die ländlichen Strukturen auch die ökonomisch schlüssige Option, weil sie dafür notwendigen Energietechniken von einer infrastrukturellen Vernetzung und einem zentralen Versorgungssystem unabhängig sind. Es gibt durchaus eindrucksvolle Beispiele für die Elektrifizierung mit dezentralen und netzunabhängigen Anlagen für die Nutzung erneuerbarer Energien - etwa die Solar Home Systems (solare Energieversorgung einzelner Haushalte) mit Fotovoltaik, wie sie in ländlichen Gebieten der Dritten Welt inzwischen zunehmend eingeführt werden. Es gibt umfassende Durchführbarkeitsstudien, wie solche in hoher Anzahl eingeführt werden können, etwa jene über Photovoltaic for the Worlds Villages, die 1996 im Auftrag der EU-Kommission erstellt wurde. Immerhin leben mehr als zwei Milliarden Menschen ohne Anschluss an ein Stromnetz. Überlandleitungen und Verteilernetze sind aber der größte Kostenfaktor eines zentralisierten Strombereitstellungssystems. Die Kosten dafür betragen oft mehr als das Vierfache der Kosten für Kraftwerke. Was die Menschen und ihre Regierungen in den Industrieländern über viele Jahrzehnte hinweg langsam abbezahlt haben, bleibt in ländlichen Räumen der Entwicklungsländer unbezahlbar.
Aber eine Energiepolitik, die diesen Notwendigkeiten und Möglichkeiten auch nur annähernd entspricht, ist weit und breit nicht sichtbar. Die maßgeblichen Entscheidungsträger, die eingebettet sind in das Interessengeflecht der fossilen Rohstoffwirtschaft - einschließlich der Regierungen der Dritte-Welt-Länder selbst -, verhindern bis heute ein Umdenken und eine Strategie für den Einsatz erneuerbaren Energien. Von der globalen Energiekette sind sie auch ideologisch so sehr gefesselt, dass sie an die nächstliegende Möglichkeit zu allerletzt denken - ganz zu schweigen von der Korruption, die die Energiekonzerne seit Jahr und Tag erfolgreich praktizieren.
Das vielleicht deutlichste Beispiel kontraproduktiver Energiestrategien ist das Projekt einer Hochspannungsleitung nebst angeschlossenen Großkraftwerken im südlichen Afrika, die von der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas (SADC) geplant ist. Angola, Botswana, Lesotho, Malawi, Mosambik, Namibia, Swasiland, Tansania, Sambia und Simbabwe haben 1996 ein gemeinsames Energieprotokoll verabschiedet. Geplant ist ein Stromnetz vom Äquator bis zum Kap - dies wäre die längste Stromleitung des Erdballs. Es soll gespeist werden mit Strom aus großen, zum Teil noch zu errichtenden Staudamm-Kraftwerken, aus Kohle- und einigen Gaskraftwerken der SADC sowie aus südafrikanischer Atomkraft. Dieser Power Pool unter faktischer Federführung des südafrikanischen Stromgiganten Eskom ist aber tatsächlich ein Monstrum organisierter zivilisatorischer Fehlentwicklung. Aus Kostengründen ist es unmöglich, den über die Hochspannungsleitungen transportierten Strom in die Dörfer zu lenken, wo drei Viertel der Gesamtbevölkerung des Subkontinents leben. Die Hochspannungsleitung wird deshalb die Wirtschaftstätigkeit entlang der Stromlinie konzentrieren. Diese Leitung provoziert also Landflucht und Slumbildung in den Städten und ist dabei armutsfördernd und kulturzerstörend. Die aus den ländlichen Räumen Abwandernden lassen die Alten in den Dörfern zurück, die Familienstrukturen werden zerrissen. Und in ihrer neuen Heimat in den Wellblechunterkünften um die Städte blühen Prostitution, Verwahrlosung und Gewalt. Der jähe Sprung von ländlichen Dorfstrukturen in ein zentralisiertes Energiesystem wird damit für die Gesellschaften ein Absturz ins Bodenlose. Das Konzept wirtschaftlicher "Modernität", die Menschen zu den fossilen Energiesystemen zu holen, statt die Energiesysteme dort bereitzustellen, wo sie leben, erweist sich als verhängnisvolle Obsession.
Die Länder des Südens verfügen über den größten Reichtum an Rohstoffen - sowohl an fossilen wie an solaren oder biologischen. Dennoch stecken sie in der Falle des fossilen Ressourcenzentralismus, weil sie auf Gedeih und Verderb von dessen Ketten abhängig gemacht werden beziehungsweise sich selbst abhängig gemacht haben. Dies zeigt sich auch daran, dass die Volkswirtschaften der Dritten Welt im Verhältnis zu den Exporteinnahmen immer mehr Geld für den Import von fossiler Energie ausgeben müssen
Die aus den Weltentwicklungsberichten zusammengestellte Tabelle zeigt rasant steigende Kosten für Energieimporte seit Mitte der sechziger Jahre. Das Bild wäre noch deutlicher, stünden in den jüngeren Weltentwicklungsberichten auch die Angaben für die Jahre nach 1985. Alles spricht dafür, dass der Energieimport seither noch größere Anteile der gesamten Exporteinnahmen verschlingt. Ursache dafür ist vor allem der wachsende Treibstoffbedarf für die beschleunigte Motorisierung und den Flugverkehr infolge des Tourismus. Dabei ist in der Statistik nicht einmal die Höhe jenes Anteils der Exporteinnahmen enthalten, der zusätzlich für den Import von Kraftfahrzeugen zur Umwandlung der importierten Energie ausgegeben werden muss. Ebenso wenig sind die Summen ausgewiesen, die für den Import von Düngemitteln aufgebracht werden.
Der Energieeinsatz steht am Beginn jeder Wertschöpfungskette. Wird er immer teurer, so ergibt sich daraus die dramatische Erkenntnis: Die Länder der Dritten Welt haben keine wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, solange sie von fossilen Primärenergieeinfuhren abhängig sind. Die Energieeinfuhren fressen die wirtschaftlichen Erträge, die aus dem Energieeinsatz erwachsen sollen, von vornherein auf. Wahrscheinlich hat angesichts der seit den sechziger Jahren rasant steigenden Kurve der Energieimporte mittlerweile die Mehrzahl der Dritte-Welt-Länder einen Importkostenanteil, der weit über 50 Prozent der Exporteinnahmen liegt, und bei manchen nähert sich die Kurve schon den 100 Prozent oder geht gar darüber hinaus.
Die Aussichtslosigkeit der auf fossiler Energie basierenden wirtschaftlichen Entwicklung vor allem für die Dritte Welt wird noch offensichtlicher, wenn man betrachtet, in welchen Sektoren diese Energie vorwiegend eingesetzt wird. Leider gibt es dazu kaum Statistiken, offenbar weil den Wirtschaftswissenschaftlern einschließlich der Energie-Ökonomen dieses Problem kaum bewusst ist. Ein erheblicher Teil der Energieimporte wird nämlich in den Rohstoff-Förderländern in den Minen für das Schmelzen und den Transport mineralischer Rohstoffe eingesetzt. Bei einigen der Rohstoff-Förderländer macht der Export dieser Rohstoffe weit über 50 Prozent aller Exporterlöse, bei manchen sogar mehr als 90 Prozent aus (Neukaledonien 99 Prozent, Sambia 92 Prozent, Namibia 77 Prozent, Guinea 70 Prozent, Togo 66 Prozent, Zaire 60 Prozent, Marokko 52 Prozent). Es wäre interessant auszurechnen, wie viele der Deviseneinnahmen aus dem Export dieser Rohstoffe allein für den Import des Energiebedarfs für die Rohstoff-Förderung und -lieferung ausgegeben werden müssen. Dies macht den volkswirtschaftlichen Wert dieser Rohstoffe für die Exportländer wahrscheinlich noch zweifelhafter, als er ohnehin schon ist - abgesehen von den falschen politisch-ökonomischen Weichenstellungen in Richtung auf ein zentralisiertes Energiesystem. In vielen Ländern profitieren allein die Beschäftigten im Rohstoffsektor und korrupte Regierungen und Staatsbeamte von der Rohstoffwirtschaft. Würde man die fossilen Energiesysteme einschließlich der importierten Kraftwerke und Kraftfahrzeuge bilanzieren, ergäbe das unter dem Strich wohl einen Verlust für die meisten Volkswirtschaften der Dritten Welt. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden globalen Energiekrise und den zu erwartenden Preissteigerungen sind diese in Gefahr, von der fossilen Energiekette stranguliert zu werden.
Die Steigerung der Energieeffizienz gilt immer noch als Favoritin in der Diskussion über Alternativen zum gegenwärtigen Energiesystem. Erneuerbare Energien gelten demgegenüber als nachrangig, weil der Investitionsaufwand dafür relativ größer sei. Nun ist zweifellos besonders in den Städten der Entwicklungsländer der Spielraum für einen effizienteren Energieeinsatz enorm groß. Dennoch ist die These vom ökonomisch begründeten Vorrang der Energie-Effizienz falsch, weil sie nur die Energiebereitstellung betrachtet. Sie berücksichtigt nur die Investitionsrechnung pro installierter Kraftwerkskapazität, stützt sich also auf den betriebswirtschaftlichen Kostenvergleich nur eines technischen Glieds der Energiekette - als sei die Energiekette vor und nach der Energieumwandlung bei jeder genutzten Energiequelle gleich und als gäbe es keine jeweils darauf bezogene Energie-Infrastruktur. Es werden also keine Energiesysteme verglichen. Auch das Emissionshandelskonzept des Kyoto-Protokolls dreht sich um diese beschränkte Kraftwerks-Betriebsökonomie. Demgegenüber ist es aus entwicklungsökonomischen Gründen zwingend, die gesamte Bereitstellungskette zu betrachten - und damit den entscheidenden Unterschied zwischen der Bereitstellung atomarer und fossiler Energien einerseits und erneuerbarer Energien andererseits zu erkennen.
Energieverbrauch ist immer dezentral - dort, wo Menschen arbeiten und leben. Die Energiebereitstellung atomarer und fossiler Energie ist hingegen zwangsläufig zentral, weil die Energiequellen an relativ wenigen Plätzen der Welt vorgefunden und gefördert werden. Zwischen Energiequellen und -konsumenten liegt damit die atomar/fossile Energiekette der diesbezüglichen Energiewirtschaft - mit dem Einsatz von Techniken zur Förderung, zur Aufbereitung, zur Raffinierung, zum Transport, zur Stromerzeugung, zur Entsorgung, zum Weitertransport und zur Verteilung, und alles unter internationalisierter und zentralisierter Kontrolle. Und stets geht das einher mit Kosten und Energieverlusten. Die Energiewirtschaft mit ihren Strukturen und Unternehmensformen ist zugeschnitten auf die Bereitstellung der fossilen Energien und auf Konzentration in Großanlagen, um durch die Lieferung großer Energiemengen den Kostenaufwand für die Schleusen der Energiebereitstellung senken zu können. Das Energiesystem muss dem Fluss der jeweiligen Energiequellen folgen und nicht umgekehrt. Es wird künstlich erhalten durch Energiesubventionen, die nach Berechnungen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) 300 Milliarden US-Dollar jährlich ausmachen.
Erneuerbare Energien haben dagegen - insbesondere in den Ländern und Regionen, wo es um erstmalige Energiebereitstellung geht - den einzigartigen Vorteil, dass kurze Energieketten möglich sind, weil sie den Infrastrukturaufwand des fossilen Systems vermeiden können. Sie erlauben, dass dezentral dort Energie gewonnen wird, wo sie benötigt wird, weil sie die überall vorhandene natürliche Umgebungsenergie nutzbar machen. Sie ersparen den Import von Energie und den Bau einer weiträumigen Infrastruktur für lange Energiewege. Sie nutzen kostenlose Primärenergie - oder die kommerziell angebaute energetische Biomasse, die der je eigenen Land- und Forstwirtschaft Auftrieb gibt. Sie stützen sich auf Techniken, die weniger komplex sind als die der Großkraftwerke und damit auch tendenziell eher von den Entwicklungsländern selbst produziert werden können.
Erneuerbare Energien sind damit die Triebfeder einer Entwicklungsökonomie, die angepasst und modern zugleich ist. Sie ermöglichen eine stetige wirtschaftliche Entwicklung, die unabhängiger statt abhängiger macht. Alle volkswirtschaftlichen und entwicklungsökonomischen Gründe sprechen für sie - die ökologischen ohnehin. Es ist höchste Zeit, die erneuerbaren Energien zum strategischen Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung zu machen. Anders ist die Entwicklungskrise der Dritten Welt nicht zu überwinden.
Literatur
Die wichtigsten Bücher Hermann Scheers zum Thema dieses Artikels sind:
Sonnenstrategie. Politik ohne Alternative, München 1993 (9. Auflage 1999)
Solare Weltwirtschaft. München 1999 (4. Auflage 2000)
1960 | 1965 | 1976 | 1985 | |
Äthiopien | 11 | 8 | 27 | 43 |
Brasilien | 11 | 13 | 28 | 37 |
Indien | 11 | 8 | 26 | 30 |
Madagaskar | 9 | 8 | 22 | 34 |
Mali | 13 | 16 | 25 | 55 |
Marokko | 9 | 5 | 23 | 50 |
Pakistan | k.A. | 7 | k.A. | 52 |
Philippinen | k.A. | 12 | k.A. | 44 |
Sierra Leone | 11 | 11 | 10 | 63 |
Sri Lanka | 12 | 11 | 28 | 33 |
Sudan | 8 | 5 | 26 | 51 |
Syrien | 16 | 13 | 16 | 76 |
Thailand | 12 | 11 | 28 | 33 |
aus: der überblick 04/2001, Seite 6
AUTOR(EN):
Hermann Scheer:
Hermann Scheer ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, politischer Publizist und als SPD-Mitglied seit 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit 1988 ist er auáerdem ehrenamtlicher Präsident von EUROSOLAR. Im Juni 2001 wurde er Vorsitzender des Weltrats für Erneuerbare Energien. 1999 erhielt er den Alternativen Nobelpreis.