Die Iraker sollen eine Verfassung bekommen
Von den Begründungen für den Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak sind nur noch der Sturz des Diktators und der Aufbau einer demokratischen Ordnung geblieben. Nachdem im Januar ein Parlament gewählt wurde, soll nun in kurzer Zeit eine Verfassung erarbeitet und in einer Volksabstimmung angenommen werden. Auch Bürgerorganisationen sollen sich in diesem Prozess zu Wort melden können.
von Renate Wilke-Launer
Wie viele NGOs gibt es denn im Irak? "Raten Sie mal." Der erwartungsvolle Blick lässt es geraten sein, eher hoch zu greifen. "2500?" "Falsch, es gibt 5000!" Noch bevor man diese erstaunliche Zahl anzweifeln kann, erfolgt die Relativierung: "Aber viele sind reine Familienunternehmen". Der jordanische Kollege von Ralf Erbel im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman, Mohammed al Husseini, beziffert die Zahl sogar auf 6000, schränkt aber ebenfalls sofort ein: Manchmal ist das nur ein Ehepaar mit Kind. Und erzählt gleich ein Beispiel, wo sich seine beiden Gesprächspartner nach vielen schönen Beteuerungen weniger als NGO denn als Ehepaar entpuppten.
6000 NGOs in einem Staat, der bis vor kurzem nicht nur autoritär regiert, sondern auch von Furcht beherrscht war? Der fremde Truppen in großer Zahl im Land hat, die ziemlich unbeliebt, vielen sogar verhasst sind? In dem man damit rechnen muss, auf dem Weg zur Arbeit oder im Restaurant Opfer eines Anschlages zu werden? In dem ganz gezielt Vertreter bestimmter Berufsgruppen wie Ärzte und Ingenieure ermordet werden?
Doch für Fragen, ob es sich hier wirklich um zivilgesellschaftliches Engagement handelt, ob es ein Programm, eine Basis und Partizipation gibt, bleibt keine Zeit. Es muss etwas passieren. Und deshalb wird vom Ausland, etwa den im Irak stark engagierten US-amerikanischen Institutionen National Democratic Institute (NDI) und International Republican Institute (IRI), erfreut registriert, dass sich im Irak etwas regt, dass es so viele Parteien und Bürgerorganisationen gibt: "Die Iraker wollen einen pluralistischen politischen Prozess", so Kenneth Wollack vom NDI.
Wie die beiden amerikanischen Institute haben sich auch andere internationale Einrichtungen bei der Vorbereitung der Wahl vom 30. Januar dieses Jahres engagiert. So gut es angesichts der Sicherheitslage eben ging. In den Berichten von NDI und IRI ist weniger von Präsenz im Land als von Schulung im Ausland und von (finanzieller) Förderung die Rede. Obwohl aus der Not geboren, wird diese Konstellation doch gelegentlich vollmundig als ownership der Irakis gepriesen: es sei ihre Wahl.
Hauptaufgabe des 275-köpfigen Parlaments ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Das soll bis Mitte August geschehen, anschließend muss das Dokument bis Mitte Oktober in einer Volksabstimmung angenommen werden. Wenn zwei Drittel der Wähler in mindestens 3 der 18 Provinzen den Entwurf ablehnen, müssen das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Die Verfassung muss die Zustimmung aller wichtigen Bevölkerungsgruppen finden.
Diesen von Anfang an atemberaubenden Zeitplan hat das Transitional National Assembly Law (TAL) vorgegeben, die während der US-Besatzung im März 2004 verordnete Interimsverfassung. Doch erst am 10. Mai wurde ein 55-köpfiges Komitee dafür gewählt: 46 Männer und 9 Frauen. Die Diskussionen um dessen Zusammensetzung gingen allerdings weiter. Um die sunnitischen Araber stärker zu beteiligen, wurde noch einen Monat später hoch gepokert. Viele hatten die Parlamentswahl boykottiert, deshalb verfügen sie nur über 17 der 275 Sitze und nur über zwei Plätze im verfassungsgebenden Komitee. Das Angebot, 13 Sunniten zusätzlich in den Ausschuss aufzunehmen und ihnen damit genau so viele Plätze zu geben wie den Kurden, wurde von ihrem Sprecher Adnan al-Dulaimi abgelehnt. Erst Ende Juni einigte man sich auf 15 zusätzliche Sitze und weitere 10 beratende Mitglieder. Am derweil noch kleiner gewordenen Zeitfenster wollen wichtige irakische Politiker dennoch festhalten, US-Außenministerin Condoleezza Rice und ihr Stellvertreter Robert Zoellick haben bei ihren Besuchen in Bagdad im Mai ebenfalls darauf gedrängt. Dabei ist in Artikel 61 des TAL vorgesehen, dass der Prozess um bis zu einem halben Jahr ausgedehnt werden kann. In der Diskussion darüber werden Effizienz und Partizipation gegeneinander abgewogen, wobei Schnelligkeit in diesem Fall eine besondere Dringlichkeit hat und Partizipation als Luxus erscheint. Ein Fall für das Textbuch ist der Irak nicht. Eine neue Verfassung in zwei Monaten? Das ist selbst unter den besten denkbaren Umständen kaum vorstellbar. In allen anderen Nach-Konflikt-Prozessen der letzten Jahre hat man wesentlich länger gebraucht.
Und dennoch: Da es keine Alternative gibt, will die "internationale Gemeinschaft" helfen so gut es geht. Kofi Annan hatte schon einige Zeit zuvor ein Team unter dem angesehenen südafrikanischen Juristen Nicholas "Fink" Haysom nach Bagdad geschickt. Ende Mai hat der Präsident der Übergangsversammlung die Vereinten Nationen offiziell gebeten, den Prozess der Verfassungsgebung zu unterstützen.
Also müssen hinter gut bewachten Türen ganz schnell Kompromisse über die Staatsform, die Verteilung der (Öl-)Einnahmen, die Machtteilung und die Rolle des Islam erzielt werden. Schwierig genug. Und dann soll das Ergebnis auch noch internationalen Standards entsprechen und gleichzeitig nicht als vom Ausland aufoktroyiert empfunden werden. "Inklusiv, transparent und partizipativ", wie man Anforderungen an verfassungsgebende Prozesse in Strategiepapieren formuliert, wird es in diesem Fall nicht zugehen. Im Gegenteil: So hermetisch vom Volk abgeriegelt, wie dieses Verfassungskomitee in Bagdads grüner Zone arbeiten muss, ist wohl noch keine demokratische Verfassung formuliert worden. Artikel 60 des TAL sieht aber vor, dass die Bevölkerung an dem Prozess der Verfassungsgebung beteiligt werden soll, u.a. durch öffentliche Veranstaltungen im ganzen Land und mit der Möglichkeit, selbst Vorschläge einzureichen.
Wie kann das gehen in einem so gespaltenen und traumatisierten Land? Zwar hat es ein paar Meinungsumfragen gegeben, es gibt Medien, aber eben doch keine andere Lösung, als diejenigen so gut wie möglich einzubeziehen, die sich, schnell dem internationalen Sprachgebrauch angepasst, NGOs nennen: Berufsverbände, Gewerkschaften, humanitäre oder politische Gruppen und hervorragende oder hervortretende Einzelpersonen. Und die müssen ja auch irgendwie dazu befähigt werden. Das meinen jedenfalls die Vertreter vieler Länder und die einschlägig engagierten Entwicklungsagenturen, denen B Bush hin, Blair her B an einer "exit"-Strategie der Koalitionstruppen und an ownership der Iraker liegt.
An Interesse und Geld fehlt es deshalb nicht. Darüber gibt eine umfangreiche Mapping Matrix of Potential Support Available for the Constitution Making Process Auskunft. Da stehen bloße Ankündigungen und vage Absichtserklärungen neben durchdachten und anderswo erprobten Vorhaben. Die Friedrich-Ebert-Stiftung kann dabei auf ihre im Rahmen der Wahlbeobachtung entstandenen guten Kontakte und Erfahrungen bei der Verfassungssberatung in anderen Ländern aufbauen. Zusammen mit dem Amman Center for Human Rights Studies (ACHRS) bietet sie ein Schulungsprogramm für NGOs an: Nach einem Einführungsseminar gibt es fünf Kurzkurse über alles, was man beim Verfassungmachen und -beurteilen wissen muss: ausgehend vom deutschen Beispiel, aber mit Kenntnis der besonderen irakischen Probleme und unter Einbeziehung internationaler Erfahrungen.
Die Teilnehmer sind so sorgfältig ausgewählt, wie es unter den besonderen Umständen möglich ist. Eine Kerngruppe soll an allen Kursen teilnehmen, doch man kann nicht immer vorschreiben, wen eine Gruppe schickt. Schon hier zeigt sich die Spannung zwischen Effizienz und Partizipation. Sie bestimmt auch das Seminar: Eine große Aufgabe und wenig Zeit, deshalb wird freundlich, aber bestimmt darauf geachtet, dass strukturiert gearbeitet wird. Nach einer Einführung von Thomas Dackweiler (Consultant), Dr. Jutta Kramer oder Professor Hans-Peter Schneider (beide Verfassungsexperten) geht es jeweils in Arbeitsgruppen. Heftige Debatten in arabisch, viel Zigarettenrauch, anschließend Bericht im Plenum. Meistens ist das Zustimmung, diese (ausgewählten ) Iraker wollen es ähnlich haben wie anderswo erprobt.
Bewegung kommt immer dann in die Gruppe, wenn es um die Repräsentation von Frauen geht. Gelegentlich blitzt da sogar Übermut auf: Es könnten ja zum Beispiel noch mehr Frauen gewählt werden als eine Quote vorsieht, dann wären es sogar mal mehr als 50 Prozent. Auf der Basis von Qualifikation! Was die einen freut, ist den anderen nicht ganz geheuer. Eine gewisse Unruhe, vor allen Dingen unterschiedliche Meinungen gibt es bei der Frage, ob Mitglieder der bis vor kurzem alles dominierenden Baath-Partei bestimmte Rechte haben sollen oder nicht. Oder ob die im Ausland lebenden Iraker wählen können sollen. Und dass die Kurden eine besondere Gruppe im Land sind, ist auch nicht zu überhören. Bevor aber allzu intensiv über Vorrechte und Benachteiligungen gesprochen wird, sagt immer jemand mit Enthusiasmus "Aber wir sind doch alle Iraker!"
aus: der überblick 02/2005, Seite 55
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer
Renate Wilke-Launer ist Chefredakteurin des "überblick".