"Für die Politik bin ich zu ehrlich"
Werner Rostan hat dreißig Jahre die Projektarbeit von "Brot für die Welt" mit gestaltet. Angetrieben hat ihn die Hoffnung, zusammen mit den Partnern in Lateinamerika alternative Entwicklungswege zu finden. Trotz aller Fehlschläge ist dieses Ideal für ihn nicht erledigt.
von Bernd Ludermann
Werner Rostan ist ein Engagierter vom alten Schlag. Mit seinen Sandalen, der umflochtenen Büchertasche aus Naturleder und dem grauen Vollbart erinnert er auf den ersten Blick an Aktivisten der Umwelt- und Friedensbewegung aus der Zeit, als die Grünen erstmals den Sprung in den Bundestag schafften. Sein blaues Hemd mit den bunten Borten, offenbar von lateinamerikanischer Machart, weist darauf hin, für welche Sache Rostan sich einsetzt: Für die Armen dieses Subkontinents. Seit 1971 bearbeitet Werner Rostan von Stuttgart aus Projekte von "Brot für die Welt" in Lateinamerika. Als Leiter des für Mexiko, Mittelamerika und die Karibik zuständigen Referats verabschiedet er sich nun in den Ruhestand.
Als Rostan bei "Brot für die Welt" begann, stammten viele Dritte-Welt-Engagierte aus der Studentenbewegung. Nicht so Werner Rostan. Er ist geprägt von der Schufterei auf dem Bauernhof seines Vaters, der für ihn auch in der Erinnerung nichts von einer Idylle angenommen hat. Sein Vater war eigentlich Wagner, doch weil dieser Beruf ausstarb, ernährte sich die Familie von einer kleinen und schlecht organisierten Landwirtschaft. "Da wurde noch in den 1950er Jahren das Korn mit der Sense gemäht", schimpft Rostan. Der Ertrag der Knochenarbeit blieb gering. Werner verließ den Hof, absolvierte ein zweijähriges Pädagogik-Studium und begann mit zwanzig Jahren, als Realschullehrer zu arbeiten. Die Erfahrungen seiner Familie sind aber wohl eine Quelle seines Gespürs dafür, dass eine schnelle Modernisierung Kulturen und Fertigkeiten entwerten und die Anpassungsfähigkeit von Menschen überfordern kann.
Das zweite prägende Erlebnis waren Rostans Jahre in Peru. Im Alter von 24 Jahren und gerade verheiratet, ging er mit seiner Frau nach Lima und arbeitete fünf Jahre an einer deutschen Schule. Lateinamerika war, so sagt er, schon immer eine "fixe Idee" von ihm. Doch die Armut, die er dort in den Slums fand, schockierte ihn. Als aktive und gläubige Christen wollten er und seine Frau nicht daran vorbeisehen: Beide arbeiteten einmal in der Woche in einer Tagesstätte für arme Kinder mit, und dafür fuhr Werner Rostan auf dem zentralen Markt einkaufen. Seine deutschen Nachbarn beunruhigte das. "Sie sagten mir, der Stadtteil um den Markt ist gefährlich, da darf man auf keinen Fall hinfahren", berichtet Rostan. "Aber mir ist da nie auch nur etwas gestohlen worden."
Auch peruanische Kollegen verstanden seinen Einsatz lange nicht. "Sie haben mich fünf Jahre niedrige Arbeiten tun lassen und mich beobachtet", erzählt er. "Am Ende haben sie mich gefragt, warum ich als gut Situierter so etwas mache." Denn dass Begüterte Anteil am Schicksal der Armen nehmen, ist nach Rostans Erfahrungen in Lateinamerika nicht üblich. So hat er mehrmals gehört, dass Dienstmädchen weggelaufen sind, sobald ihre ausländischen Arbeitgeber als Anerkennung den Lohn erhöhen wollten. "Die Mädchen dachten, nun würde zusätzlich etwas von ihnen verlangt, was sie nicht konnten oder wollten, vielleicht gar sexuelle Dienste", erklärt Rostan. Er hat daraus einen wichtigen Schluss für seine Arbeit gezogen: "Wenn unsere Partner in Lateinamerika nicht irgendwann skeptisch fragen, warum tut "Brot für die Welt" das eigentlich für uns, dann werde ich misstrauisch." Denn dann wollen sie möglicherweise nur Geld abgreifen.
Zu "Brot für die Welt" ist Werner Rostan durch einen Zufall gekommen, den er einem Hobby verdankt: dem Fotografieren. Als er nach der Rückkehr aus Peru seine Bilder dem Hilfswerk anbot, geriet er in eine Debatte über Projekte in Lateinamerika. Seine Einwürfe müssen überzeugend gewesen sein, denn "Brot für die Welt" bot ihm kurz darauf eine Stelle als Referent an. Rostan griff zu, obwohl er gleichzeitig auch eine Lehrerstelle hätte antreten können.
Drei Jahrzehnte hat er seitdem die Projektarbeit für wechselnde Länder Lateinamerikas mit geprägt, vor allem für den nördlichen Teil des Subkontinents. Dabei lag in den siebziger Jahren, so erklärt er, der Schwerpunkt auf der Förderung von Agrarreformen, die damals in Lateinamerika zu großen Konflikten führten, sowie auf der Educación Popular, der Bildungsarbeit an der Basis. Heute fördert "Brot für die Welt" in Lateinamerika kaum noch Bildungsprojekte, aber die Bewusstseinsbildung ist Teil der meisten Vorhaben geworden. Das ist Rostan wichtig - ein wenig ist er offenbar Pädagoge geblieben.
In den 1980er Jahren standen die Hilfe für die Opfer der Militärdiktaturen, etwa für im Land Vertriebene, sowie die Menschenrechtsarbeit im Vordergrund der Projektarbeit. Rostan und seine Kollegen unterstützten zum Beispiel kirchliche Basisgemeinden und Menschenrechtsinitiativen in Mittelamerika. Darin wuchs eine Schicht von Aktivisten heran, die später zahlreiche nichtstaatliche Organisationen (NGOs) mit getragen hat. In den 1990er Jahren, nach der Demokratisierung in Lateinamerika, traten dann die Förderung nachhaltiger ländlicher Entwicklung und dezentrale Gesundheitsprojekte in den Mittelpunkt der Arbeit von Rostans Referat. Auch damit knüpfte er an eigene Erfahrungen an: In den Jahren von 1979 bis 1982 - der einzigen Unterbrechung seiner Zeit bei "Brot für die Welt" - arbeitete Rostan als Fachkraft bei einer kirchennahen NGO in Ecuador, die ländliche Entwicklung förderte. Dienste in Übersee hatte ihn dorthin vermittelt.
Ecuador befand sich damals im Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie. Die Mitglieder der NGO, bei der Rostan arbeitete, waren, so erzählt er, "sehr links" eingestellt und lehnten den Kapitalismus radikal ab. Ihre Vorstellung von ländlicher Entwicklung war jedoch am Vorbild der technisierten Landwirtschaft in Europa und den USA orientiert. Von ökologischer Bewirtschaftung wollten sie nichts hören. "Ich habe ihnen gesagt: Ihr lehnt jede Zusammenarbeit mit dem Kapitalismus ab. Aber wenn Ihr auf den Anbau für den Markt und den Einsatz von Dünger setzt, dann fördert ihr praktisch den Kapitalismus", berichtet Rostan. Doch frustriert musste er feststellen, dass er mit seinen Argumenten nicht landen konnte. Unbeirrt baute er trotzdem biologische Versuchsgärten auf und weitete sie aus. Das hat schließlich Frucht getragen: Vor kurzem hat sich einer seiner damaligen Kollegen wieder gemeldet. Er ist heute Experte für biologische Landwirtschaft und schreibt, dass Rostans Gärten, die er damals belächelt hat, inzwischen in ganz Ekuador verbreitet seien. "Meine Frustrationstoleranz hat sich doch gelohnt", bemerkt Rostan mit einem Anflug von Stolz.
Die Suche nach alternativen Entwicklungswegen ist offenbar sein eigentliches Anliegen. Er äußert sich zutiefst skeptisch gegenüber dem Konzept der nachholenden Entwicklung und gegenüber Versuchen, in armen Ländern den Weg der heute reichen nachzuahmen. Den Einwand, dass einige asiatische Staaten auf diese Weise wohlhabend geworden seien, lässt er nicht gelten außer für Japan. Und auch da habe dies das Land seine Identität gekostet, sagt er. Viele Entwicklungsforscher sehen das anders. Doch vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Peru und Mittelamerika ist Rostans Ansicht verständlich: Hier gingen Modernisierungsprozesse tatsächlich oft auf Kosten der Armen und entwerteten zum Beispiel die Kultur indigener Bevölkerungsgruppen, ohne den versprochenen Wohlstand zu bringen. Rostan sucht daher nach einem "Dritten Weg", nach einer an der Basis orientierten, selbstbestimmten Entwicklung.
Ein wenig von diesem Ideal und vom Eintreten für andere Menschen scheinen Rostan und seine Frau durch ihr praktisches Vorbild auch ihren Kindern vermittelt zu haben. Ihre Tochter ist Ärztin und arbeitet als Redakteurin; ihre zwei Söhne haben sich beide für eine Ausbildung als Ingenieur entschieden und auf erneuerbare Energien spezialisiert. Der jüngere arbeitet in einer Gruppe mit, die sich für die Einführung erneuerbarer Energien in Kuba einsetzt.
Werner Rostan ist nun in Altersteilzeit und wird im November sein Büro in der Stuttgarter Stafflenbergstraße räumen. Praktisch an seinem 31. Geburtstag hat er bei "Brot für die Welt" angefangen und hört fast genau 31 Jahren später auf. Für diese "zweite Hälfte" seines bisherigen Lebens zieht er eine gemischte Bilanz. Rostan rechnet sich als Erfolg an, dass der Gedanke der alternativen Entwicklung seit Mitte der 1970er Jahre bei "Brot für die Welt" anerkannt ist. Die Projekte in Lateinamerika haben, sagt er, viel zum Aufleben der NGO-Szene dort beigetragen. Auch die mittlerweile ausgereiften Konzepte der nachhaltigen Landwirtschaft seien in dieser Region mit ein Verdienst der Arbeit des Hilfswerks. Die Bewegung, in der Bauern und Bäuerinnen in Mittelamerika Neuerungen untereinander weitergeben, ist für Rostan ein besonderes Hoffnungszeichen.
Jenseits der Projekte fällt sein Fazit düsterer aus. Vor kurzem war er wieder in Peru und hat festgestellt, dass die Armut gegenüber den sechziger Jahren noch zugenommen hat. "Die Lage ist nicht besser, sondern schlechter geworden", erklärt er. "Die Akteure, die das Gegenteil von dem tun, was "Brot für die Welt" unterstützt, sind übermächtig. Was können wir gegen Regierungen und Konzerne tun? Diesen Kampf haben wir verloren." Er sagt das ohne Bitterkeit oder Resignation. Davor, so scheint es, schützt ihn die Gewissheit, dass er trotz allem seinen Idealen treu geblieben ist. So lautet seine Lehre aus der Niederlage: "Wir müssen mehr Arbeit hier bei uns zu Hause machen." Uns im Norden müssen wir ändern, wenn der Süden die Chance haben soll.
Wird dann Rostan, wenn er sein Büro mit dem verschlissenen Teppich, dem alten Schreibtisch und dem großen Christusdorn am Fenster verlassen hat, eines Tages im Bundestag Platz nehmen? Das ist nicht zu erwarten. Die Zeit, wo Menschen wie er von einer Bewegung ins Parlament getragen werden konnten, scheint vorbei zu sein. Außerdem, so sagt er: "Dafür bin ich viel zu ehrlich."
Dass er sich zur Ruhe setzt, mag man aber auch nicht glauben. Dafür strahlt er zu viel Energie aus. Er will sich weiter in seiner Kirchengemeinde engagieren, wo er schon bisher für die Anliegen von "Brot für die Welt" geworben hat. Mehr Zeit will er auch in den Arbeitskreis zukunftsfähige Gemeinde stecken sowie in seinen großen ökologischen Gemüsegarten und seine Streuobstwiesen, die schon einmal als vorbildlich für diese angepasste Kulturform prämiert worden sind. Auch da folgt Werner Rostan einem altmodischen Grundsatz: Was er von anderen erwartet, tut er als Erster selbst.
aus: der überblick 03/2002, Seite 130
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".