Interventionen zu billigen, geht an der Aufgabe der Kirchen vorbei
Die Debatte, wann militärische Interventionen berechtigt sind, folgt im Grunde der Lehre vom gerechten Krieg. Die aber hat nie dem Zweck gedient, für den sie erfunden wurde, nämlich Kriege zu verhindern. Zudem hat das Zentralkomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen über den extremen Ausnahmefall diskutiert, in dem eine Intervention das einzig verbliebene Mittel ist. Das lenkt von der eigentlichen Aufgabe der Kirchen ab: Gewalt im Normalfall überwinden zu helfen, so dass der Ausnahmefall nicht eintritt.
von Fernando Enns
Während der Sitzung seines Zentralausschusses in Potsdam zu Beginn dieses Jahres hat der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) die Dekade zur Überwindung von Gewalt feierlich eröffnet. Ihr erklärtes und anspruchsvolles Ziel ist es, "Geist, Logik und Ausübung von Gewalt zu überwinden". Möglichkeiten zur gewaltfreien Konfliktlösung sollen sichtbar gemacht werden; die Vernetzung von kreativen Modellen soll helfen, eine Kultur der Gewaltfreiheit zu bilden.
Es mutet zunächst eher kontraproduktiv und geradezu anachronistisch an, dass dem Zentralausschuss ein Dokument zur Diskussion vorlag, das Kriterien für eine militärische Intervention zum "Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Situationen bewaffneter Gewalt" festzulegen sucht. Müsste aufgrund der biblischen Botschaft, der verhängnisvollen Erfahrungen mit militärischem Eingreifen und der Verpflichtung durch die Dekade nicht gerade jetzt eine alternative Stimme von den Kirchen vernehmbar werden?
In den ausgiebigen Diskussionen wurde das vorliegende Dokument gründlich revidiert. Der Duktus allerdings wurde im Prinzip beibehalten. Aber das Dokument macht nun erstens deutlich, dass die Kirchen in dieser Frage uneins sind. Zweitens hat der Zentralausschuss das Papier nicht verabschiedet, sondern als Studiendokument zur Diskussion an die Kirchen weitergereicht. Hierin spiegelt sich die Aufrichtigkeit und der gegenseitige Respekt vor der Verschiedenheit der Mitglieder in der ökumenischen Gemeinschaft. Von diesem Geist waren auch die in der Sache harten Auseinandersetzungen geprägt, so dass ich selbst am Ende zu der Überzeugung gelangt bin: Unbeantwortete, vielleicht unbeantwortbare Fragen dieser Tragweite gehören in den Rahmen einer ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt. Die ökumenische Gemeinschaft muss sich erneut und womöglich gerade jetzt dieser Frage stellen, wenn sie vermeiden will, an den Problemen von bedrohten Menschen vorbei zu diskutieren oder die politischen Verhältnisse zu leugnen.
Das ist allerdings noch keine Aussage über den Ausgangspunkt und den Inhalt der Diskussion. Zunächst ist festzuhalten: Diskutiert wird der extreme Ausnahmefall, das heißt eine Situation, in der alle juristischen und politischen Mittel - auch gezielte Sanktionen - zur Beilegung eines Konflikts versagt haben, grundlegende Menschenrechte verletzt werden und das Leben von ganzen Bevölkerungsgruppen unmittelbar bedroht ist. Vorausgesetzt wird, dass die Verantwortung der Staatengemeinschaft dann nicht endet, sondern sich die Frage eines militärischen Eingreifens stellt.
Dieses Problem kann nicht geleugnet werden. Gerade seit dem Ende des Kalten Krieges, der in Teilen der Welt als heißer Krieg geführt wurde, ist deutlich geworden: Innerstaatliche Konflikte bedrohen Menschenleben. Das Diskussionspapier des ÖRK beschreibt in weiten Teilen diese Ausnahmesituation und erkennt in den Vereinten Nationen (UN) - obwohl deren Schwächen kurz erwähnt werden - die entscheidende Legitimations- und Ausführungsinstanz für Interventionen.
Einige kritische Anmerkungen scheinen mir aber nötig. Denn klar ist, dass allein von der Gestaltung des Diskussionsprozesses schon abhängen kann, zu welchen Ergebnissen man am Ende gelangt. Sollen Kriterien für militärische Interventionen diskutiert werden, dann ist bereits unterstellt, dass man solche Maßnahmen grundsätzlich für notwendig und ethisch legitimierbar hält. Aber gerade dieser Voraussetzung kann meines Erachtens die Kirche Jesu Christi nicht zustimmen.
Erstens folgt die Argumentation des Studiendokuments im Prinzip der Lehre vom gerechten Krieg (diese Lehre stammt aus der Theologie des Mittelalters und bewertet einen Krieg als gerecht, wenn er eine gerechte Sache - iusta causa - mit ehrlicher Absicht - recta intentio - verfolgt, von einer legitimen Macht - legitima potestas - geführt wird und das letzte Mittel - ultima ratio - ist, um das gerechte Ziel zu erreichen; Anm. d. Red.). Das Dokument ist daher ebenso zu bewerten. Abgesehen von der Tatsache, dass im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht nur Pazifisten die Gültigkeit dieser Lehre infrage gestellt sehen, hat diese Lehre in der Geschichte nachweislich kaum je zu dem gedient hat, wozu sie entwickelt worden ist, nämlich zur Vermeidung von Krieg. Stets wurde sie als moralische Legitimation verwendet, um Militäraktionen den Anstrich des selbstlosen Zuhilfeeilens zu geben. Das funktioniert bis heute, selbst in aufgeklärten demokratischen Gesellschaften - siehe den Eingriff der Nato im Kosovo.
Gerade der Missbrauch der Lehre vom gerechten Krieg belegt, dass es unmöglich ist, losgelöst vom Einzelfall harte Kriterien zu entwickeln, um militärisches Eingreifen moralisch gutzuheißen. Denn die entscheidende Frage wird immer bleiben: Wer entscheidet darüber, wann es um eine gerechte Sache geht, wann ein gerechtes Ziel von einer legitimierten politischen Instanz vorgegeben worden ist? Wer entscheidet, dass alle anderen Mittel versagt haben, so dass das Töten von Menschen für den Schutz von anderen in Kauf genommen werden kann? Diese Frage beantwortet auch das ÖRK-Dokument nicht. Soll tatsächlich der UN-Sicherheitsrat darüber wachen? Wenn diese Frage nicht beantwortbar ist, dann geht die Entwicklung von Kriterien an der Dynamik von Konflikten vorbei.
Diese entscheidende Frage offen zu halten, können wir uns im Falle von ethisch so zweischneidigen Fragen nicht gestatten. Den Pazifisten unter Christen und Christinnen wird immer wieder vorgeworfen, sie nähmen die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur nicht ernst genug. Hier aber wird das Vertrauen zu politischen und militärischen Instanzen eingeklagt, deren Ohnmacht und Mangel an politischem Willen so offensichtlich sind.
Zweitens: Im Rahmen der Dekade zur Überwindung von Gewalt sollen Alternativen zur Gewaltanwendung sichtbar gemacht werden. Dies konnte der Diskussionsprozess im Zentralkomitee, so wie er angelegt war, gerade nicht leisten. Das Dokument beschäftigt sich ausschließlich mit der verengten Fragestellung, wann militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint. Die Frage nach der absoluten Ausnahme kann aber nicht glaubwürdig behandelt werden, wenn nicht zuvor der Regelfall geklärt ist.
Hier verbirgt sich die größte Gefahr: Bei der Entwicklung von gewaltfreien Konfliktlösungsmodellen stecken die Kirchen ebenso wie die Nationalstaaten in den Anfängen. Sie sind unfähig, den reichen Erfahrungsschatz von langjähriger Friedensarbeit - auch aus verschiedenen nichtstaatlichen Organisationen - abzufragen, geschweige denn selbst ausreichend Mittel in die Erforschung und Erprobung dieser Modelle zu investieren. So lange das aber nicht geschieht, zumindest nicht im gleichen Umfang, wie Geld für militärische Maßnahmen ausgegeben wird, kann nicht glaubhaft argumentiert werden, dass alle gewaltfreien Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Um der Glaubwürdigkeit willen muss also zunächst die Frage gestellt werden, ob denn ausreichend Alternativen entwickelt wurden, so dass es jetzt um die Klärung des Ausnahmefalles entsprechend einer ultima ratio gehen kann. Sicher, dafür braucht es Zeit und den nötigen Willen. Und bis dahin? Meist genügt es den Befürwortern militärischer Interventionen zu behaupten, man könne doch nicht einfach zusehen. Das aber ist kein Argument für eine Intervention, schon gar kein theologisches.
Drittens: Obwohl das Dokument den anspruchsvollen Untertitel "Ein ökumenischer ethischer Ansatz" trägt, fehlen eine Erörterung der ethischen Anforderungen und theologisch fundierte Aussagen zum Problem. Damit bleibt das Dokument über den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen weit hinter dem eigenen Anspruch zurück. Die Kirchen der Welt haben unzählige Stellungnahmen zur Frage des Krieges verabschiedet, Generationen von Theologen und Theologinnen haben sich die Köpfe darüber zerbrochen. Auch die ökumenische Bewegung hat seit ihren Anfängen zwischen den beiden Weltkriegen mit dieser Frage wie mit keiner anderen gerungen. Wenn sie sich nun erneut dazu äußert und dabei in der Analyse wie in der Argumentation eher auf Dokumente der UN zurückgreift, als eigene Einschätzungen und Quellen der Entscheidungsfindung zu liefern, dann ist das kaum hilfreich.
Zu Recht muss gerade bei Fragen von dieser Wichtigkeit der Unterschied zwischen Kirchen und irgendeiner NGO deutlicher zu erkennen sein. Kirche hat eine genuine Perspektive, wenn es um politische Entscheidungen geht. Sie muss keinen Wahlkampf bestehen, sie verfolgt keine ökonomischen Interessen und ist nicht gezwungen, Rücksicht auf diplomatisches Kalkül zu nehmen. Das heißt nicht, dass ihr keine öffentliche Verantwortung zukäme. Sie kann es sich auch nicht leisten, auf realpolitische Expertise zu verzichten. Aber sie kann, ja muss geradezu ihre Unabhängigkeit von der Politik bewahren, damit sie ihren missionarischen, karitativen und prophetischen Auftrag erfüllen kann: Stimme der Stimmlosen, Fürsprecherin der Schwächsten und Anwältin der Bedrohten zu sein. Sie ist eben nicht die UN und kann diesen nur beratend zur Seite stehen.
Kirchen sollen ihre eigenen Quellen, Überzeugungen, Anliegen und Werturteile in gesellschaftliche Debatten einbringen. Sie dürfen sich nicht als moralische Legitimationsinstanz für politische Entscheidungen anbiedern, denn die Gefahr eines Heiligen Krieges ist dann nicht weit. Sie dürfen sich umgekehrt aber auch nicht damit begnügen, aus der Distanz moralische Appelle an Politiker zu richten. Damit würden sie ihrem Wächteramt ebenso wenig gerecht.
Kirchen werden, wenn sie sich auf ihre eigene Botschaft besinnen, zwischen politischen Entscheidungen und ethischen Überzeugungen genau zu unterscheiden wissen. Sie werden in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit um die richtigen Entscheidungen ringen und gleichzeitig die Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen nicht fallen lassen. Sie werden den gewaltfreien Weg suchen, gerade wenn alle anderen keine Hoffnung mehr sehen. Sie werden sich nicht einreden lassen dürfen, dass es eben manchmal nur mit Gewalt geht. Sie werden die Botschaft Jesu, der die Kreisläufe der Gewalt durchbrach, in jeder Situation neu als Messlatte für die Versöhnung einbringen. Kirchen werden Ungerechtigkeit anprangern, auch wenn diese von den UN sanktioniert wird, und sie werden nach eigenen Wegen der Intervention forschen. Sie werden darauf verzichten müssen, Gewalt theologisch zu legitimieren, und deshalb im extremen Ausnahmefall zumindest im Bewusstsein halten, dass jedes militärische Eingreifen - auch bei besten Absichten - ein Schuldigwerden an Opfern bedeutet.
Solche Überlegungen wünschte ich mir in der Diskussion des ÖRK. Im Studiendokument fehlen sie gänzlich. Wenn die Kirchen aber das zu erörtern nicht bereit sind, dann stellt sich ernsthaft die Frage der Relevanz eines kirchlichen Votums in dieser Frage. Es drängt sich die Frage auf, wer sich hier eigentlich zu Wort meldet und wer die Adressaten sein sollen. Von einem prophetischen Amt - in kritischer Loyalität zum Rechtsstaat nach dem Vorbild eines Jeremia etwa - ist diese Kirche jedenfalls weit entfernt.
Viertens: Natürlich bleibt nach all diesen Überlegungen die Frage, wie Menschen im konkreten Fall geschützt werden können. Gerade hier steht der weltweiten Ökumene ein einmaliges Potenzial zur Verfügung. Die Kirchen haben andere Informationsquellen und einen direkteren Draht in viele Konfliktgebiete. Sie genießen oft einen Vertrauensvorschuss und können daher eine Vermittlerrolle übernehmen, wie das auch täglich geschieht. Sie können über Grenzen hinweg gemeinsam darauf hinwirken, dass das internationale Recht weiter entwickelt wird. Jeder, der sich an Völkermord oder Folter beteiligt, sollte überall auf der Welt damit rechnen müssen, dafür vor einem ordentlichen Gericht zur Verantwortung gezogen zu werden. Dazu bedarf es keines Militärs, sondern der internationalen Vernetzung und Koordination von demokratisch kontrollierten und auf Gewaltminderung ausgerichteten Polizeikräften.
Ob die Kirchen der Welt einer solchen Polizeigewalt dann auch zugestehen sollten, Menschen mit Waffengewalt zu schützen, muss offen bleiben. Im Vorfeld einen Freibrief nach abstrakten Kriterien ausstellen, das kann gerade die Kirche nicht. Die Welt braucht keine Kirchen, die die gleiche Sprache sprechen wie die politischen Instanzen, sondern solche, die die Politik überall dort unterstützen, wo sie glaubwürdig ist und für Gerechtigkeit und Frieden eintritt, und ihr überall vehement widersprechen, wo sie bereit ist, unschuldige Menschenleben zu opfern - und sei es aus "humanitären" Gründen. Hier liegt die wichtigste Verantwortung der Kirchen, die sich von Zeit zu Zeit auch in einem deutlichen Nein niederschlagen wird.
Vielleicht ist das eine sehr stark deutsch und mennonitisch geprägte Sichtweise. Jedenfalls war das einer der Vorwürfe an mich während der Diskussionen in Potsdam. Schwerwiegender allerdings wäre der Vorwurf, aus der eigenen Geschichte nichts gelernt zu haben. Unterschiedliche Erfahrungen und Geschichten sollen ja während der Dekade zur Überwindung der Gewalt zur Sprache kommen. Wenn dies auch bei größten Differenzen innerhalb des ÖRK im Bewusstsein der Zusammengehörigkeit in dem einen Bekenntnis letztlich gelingt, dann ist das allein schon ein Beitrag zu einer Kultur der Gewaltlosigkeit.
aus: der überblick 03/2001, Seite 100
AUTOR(EN):
Fernando Enns:
Fernando Enns lehrt Theologie an der Universität Heidelberg. Er ist Mennonit und Mitglied des Zentralkomitees des Ökumenischen Rates der Kirchen.