Die Haltung der Serbischen Orthodoxen Kirche zum Haager Tribunal
Die überwiegende Mehrheit des orthodoxen Klerus in Serbien ist sich einig: Serbien habe in den 1990er Jahren einen Verteidigungskrieg gegen die Kroaten und die moslemischen Bosnier geführt. Somit sei der Krieg gerecht gewesen und nur einige individuelle Verfehlungen könnten durch die Justiz in den Haag geahndet werden.
von Klaus Buchenau
Jedes Rechtssystem braucht Vertrauen, wenn es funktionieren soll - Vertrauen darin, dass sich das Recht aus der Gerechtigkeit ableitet. Kriegsverbrechertribunale werden heute auch in der Absicht geschaffen, über Recht zu Gerechtigkeit und über Gerechtigkeit zu Versöhnung zu kommen. Im Falle des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) ist dieses Kalkül bislang noch nicht aufgegangen. Während die bosnischen Muslime das Tribunal überwiegend unterstützen, stößt es bei Serben und Kroaten nach wie vor auf Misstrauen. Zwar mangelt es nicht an politischen Parteien, die - auch um Hindernisse der Integration in der Europäischen Union (EU) aus dem Weg zu räumen - mit der Haager Chefanklägerin Carla del Ponte kooperieren. Aber es gibt einen gesellschaftlichen Unwillen, sich mit den Verbrechen der eigenen Seite zu beschäftigen.
Verbreitet ist die Überzeugung, man habe einen "gerechten" Krieg geführt, den eine internationale "Siegerjustiz" jetzt in Zweifel ziehen wolle. Hier mischt sich die Sensibilität der "kleinen Völker", die in ihrer Geschichte immer wieder Spielball ausländischer Mächte geworden sind, mit einer recht robusten Verdrängung der eigenen dunklen Seiten.
Das ist auch in den Kirchen der ehemaligen "Föderativen Republik Jugoslawien" nicht anders. Im Vorfeld der Kriege der 1990er Jahre gab es in westlichen ökumenischen Kreisen die Hoffnung, dass die Religionsgemeinschaften der verfeindeten Seiten über ihren eigenen Schatten springen und zum Frieden aufrufen könnten. Das haben sie auch getan. Aber die Geschichts- und Weltbilder, welche die Kriegsparteien für den Kampf motivierten, wurden auch vom Klerus genährt. Die Kirchen konnten also nicht an der Lösung des Problems mitwirken, weil sie selbst zu sehr ein Teil davon waren.
Im Zusammenhang mit dem Haager Tribunal stellt sich jetzt die "Kirchenfrage" erneut: Können die Religionsgemeinschaften einen Beitrag dazu leisten, dass die juristische Aufarbeitung der Verbrechen als Gerechtigkeit und als Beitrag zur Versöhnung akzeptiert wird? Sie können, wie die Ereignisse der letzten Jahre zeigen, wenn auch unter Vorbehalt. Einiges hat sich im Verhältnis zu den Haager Angeklagten bereits verändert, wobei es dafür verschiedene Ursachen gibt. Hier spielt offenbar die natürliche Verjüngung des Episkopats genauso eine Rolle wie der Versuch, der postjugoslawischen Isolation zu entfliehen.
Das serbische Medienecho auf die Haager Prozesse zeigt ein deutliches Muster gesellschaftlicher Widerstand hat sich vor allem gegen die Auslieferung der politischen und militärischen Elite gerichtet, weniger gegen die Übergabe von mutmaßlichen Kriegsverbrechern der unteren und mittleren Ebene. Auch die Kirchen haben sich nach diesem Schema verhalten und sind besonders auf die Barrikaden gegangen, wenn Führungspersönlichkeiten angeklagt wurden.
Der Hintergrund wird leicht verständlich, wenn man sich die Grundhaltung zu den Kriegen ansieht. Sie waren nach Ansicht der Kirchen grundsätzlich "gerecht", wurden angeblich im Namen der Selbstbestimmung und -verteidigung der Nation geführt, auch wenn einige Ausführende dabei "über das Ziel hinausschossen". Politiker und hohe Militärs waren in den 1990er Jahren Symbole der gemeinsamen Haltung, eine Anklage in Den Haag gilt daher auch als versuchter Rufmord am Prestige der Nation. Das Haager Prinzip der Individualisierung von Schuld scheint sich nicht mit dem konservativen Weltbild der Kirchen zu vertragen, wonach die Nation eine Schicksals- und Solidargemeinschaft ist. Neben dem Solidarprinzip gilt das Sympathieprinzip. Die Angeklagten, die in den 1990er Jahren der Kirche besonders nahe standen, wurden auch danach nicht so schnell preisgegeben.
Der serbisch-orthodoxe Widerstand gegen das Tribunal hat sich gegenüber niemandem so deutlich manifestiert wie dem damaligen Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic. Hier kamen Solidar- und Sympathieprinzip zusammen, denn Karadzic trug nicht nur Verantwortung für die Kriegführung der bosnischen Serben, sondern auch für die Innenpolitik in den "gesäuberten Territorien". In dieser Funktion sorgte er für die "Orthodoxierung" des eroberten Landes. Nach der Vertreibung oder Ermordung der Nichtserben wurde das gesamte öffentliche Leben mit orthodoxer Symbolik durchtränkt und der orthodoxe Religionsunterricht als Pflichtfach eingeführt. Einer Kirche, die das byzantinisch-mittelalterliche Ideal des Zusammenspiels von Kirche und Staat nie wirklich aufgegeben hatte, erschien das als vorbildlich und Karadzic als echt orthodoxer Staatsmann.
Kurz nach dem Friedensschluss von Dayton im Jahr 1995, dem sich Karadzic widersetzt und dem der serbische Präsident Milosevic zugestimmt hatte, war der Bosnienkrieg für viele serbische Kleriker noch eine heilige Sache, die unbedingt hätte weitergeführt werden müssen. Amfilohije Radovic, Metropolit von Montenegro, brachte seine Haltung im Mai 1996 so auf den Punkt: Kriege seien eine Naturerscheinung und der serbische Krieg sogar ein gerechter Krieg. Auf den Hinweis eines Mönchs, man müsse nach den kanonischen Regeln die Kämpfer zeitweilig von der liturgischen Gemeinschaft ausschließen, da sie getötet hätten, antwortete der Metropolit: Das Problem seien nicht die Kämpfer, sondern diejenigen, die den Kampf verraten hätten. Und schon wenige Sätze später war er bei Slobodan Milosevic, den er als Paradebeispiel für einen serbischen Verräter in der heutigen Zeit sah, weil er den kriegführenden "serbischen Brüdern" in den Rücken gefallen sei und in Serbien die kirchenfeindliche Politik der Kommunisten fortsetze.
Milosevic hatte also geringe Sympathiewerte, konnte als Staatschef aber das Solidarprinzip für sich beanspruchen. Entsprechend durchwachsen war das Ergebnis. Als das ICTY im Mai 1999 Anklage gegen ihn erhob, verkündete der Bischof des Kosovo, Artemije Radosavijevic auf einer Protestkundgebung im August, kurz nach dem Einmarsch der NATO-Truppen in Kosovo: "Schickt ihn nicht wieder nach Kosovo. Schickt ihn nach Den Haag." Als ein BBC-Korrespondent Artemije hinterher fragte, für welche Kriegsverbrechen Milosevic verurteilt werden sollte, blieb er die Antwort schuldig. Auf der Kundgebung hatte sich der Bischof nicht auf Kriegsverbrechen konzentriert, sondern auf die Tatsache, dass "wir Kosovo erst verloren haben, als Milosevic das Problem mit Gewalt lösen wollte." Die Betonung lag also auf dem Verlust des Gebiets, was nach den Kriterien des ICTY kein Verbrechen ist.
In den folgenden Jahren hielten sich das Unbehagen an Den Haag und die Antipathien für Milosevic in etwa die Waage. Nach dem Sturz des Diktators am 5. Oktober 2000 war die Kirche erleichtert. Als er inhaftiert wurde und in einem Belgrader Gefängnis auf seine Auslieferung nach Den Haag wartete, besuchte ihn Metropolit Amfilohije. Dabei soll er Milosevic "getröstet" haben: Die serbischen Herrscher hätten letzten Endes immer ihren Kopf opfern müssen, zum Segen des ganzen Volkes. Milosevic, so berichtete der Gefängnisdirektor Dragi a Blanu a der kroatischen Zeitschrift Nacional, sei im Nachhinein häufig auf diesen "schönen Satz" zurückgekommen. Offenbar hatte Amfilohije ihm damit die Möglichkeit gegeben, die Auslieferung nicht als moralische Attacke gegen sich selbst, sondern als nationale Heldentat im Kampf gegen den übermächtigen Westen zu deuten.
Unter dem Strich kann im Falle Milosevics von einer vorsichtigen Hinwendung der Serbischen Orthodoxen Kirche zu den Notwendigkeiten internationaler Politik gesprochen werden. Als er schließlich am 28. Juli 2001 ausgeliefert wurde, gab es unter den Bischöfen einige Unruhe, die aber durch ein Zugeständnis der Regierung unter Kontrolle blieb. Wenige Tage nach der Auslieferung kündigte Premierminister Zoran Nindic die langersehnte Einführung des orthodoxen Religionsunterrichts in den staatlichen Schulen an.
Bei Radovan Karadzic gestaltet sich die Distanzierung schwieriger, was angesichts der Nähe während des Bosnienkrieges nicht erstaunlich ist. Lange dominierte in der Kirche die Auffassung, das Haager Tribunal verfolge einen "Patrioten", der die bosnischen Serben vor einem drohenden Genozid bewahrt habe. Davon scheint sogar das Kirchenoberhaupt Patriarch Pavle Stojcevic überzeugt gewesen zu sein, als er 1997 eine Petition unterzeichnete, in der serbische Intellektuelle eine Aufhebung der Haager Anklagen gegen Karadzic und seinen Militärführer Ratko Mladic forderten.
Bis vor wenigen Jahren war es für serbische Bischöfe durchaus möglich, sich öffentlich zu dem Gesuchten zu bekennen. Als im Frühjahr 2003 Karadzics Mutter Jovanka beerdigt wurde, verglich Metropolit Amfilohije sie mit den mythischen Frauen der Kosovo-Schlacht von 1389, die ihre Helden bis zum bitteren Ende unterstützt haben sollen. Am Grab zitierte er Jovankas Worte, sie wolle ihren Sohn lieber tot als in Den Haag wiedersehen, wo er "Christus verraten" könne.
Der Metropolit hat aber bald darauf spüren müssen, dass derartige Auftritte der Kirche großen Ärger bereiten können. So etwa mit Carla del Ponte. Ende 2003 nahm sie die Sympathien des Metropoliten zum Anlass, öffentlich über den Aufenthalt Karadzics in einem orthodoxen Kloster in Montenegro zu spekulieren. Auch innenpolitisch gab es Probleme, denn montenegrinische Nationalisten versuchen schon seit den 1990er Jahren der Serbischen Orthodoxen Kirche in Montenegro die Daseinsberechtigung abzusprechen. Das tun sie gern auch mit Verweis auf die dunklen Seiten der serbisch-orthodoxen Zeitgeschichte, namentlich die kriegerische Haltung im Kroatien- und Bosnienkrieg. Um die Orthodoxie im Land von der "serbischen Bevormundung" zu befreien, gründeten sie 1992 eine eigenständige Montenegrinische Orthodoxe Kirche. Diese ist bis heute in der Weltorthodoxie nicht anerkannt, bemüht sich aber um Unterstützung im Westen, auch indem sie betont, sie sei ganz anders als die serbische Orthodoxie, friedfertig und tolerant.
Metropolit Amfilohije hat in dieser Situation eingelenkt und sich dem Diskurs angepasst. Ende 2005 erzählte er westlichen Journalisten, wenn er Karadzic wäre, würde er nach Den Haag gehen. Dass auch hier nicht die Reue den Ausschlag gab, deuten Amfilohijes Formulierungen an. Er würde Karadzic fragen, was schwerer sei: "sich in Löchern zu verstecken oder in dieses Haag zu gehen?" Wie schon bei Milosevic, appellierte er an den Heldenmut des Staatsmannes. Karadzic solle Verantwortung übernehmen, so wie 1990, als er sich entschied, die Führung der bosnischen Serben zu übernehmen. Übrigens dementierte ein Sprecher Amfilohijes später, der Metropolit habe damit Karadzic aufgefordert, sich zu stellen. Er habe nur gesagt, was er an Karadzics Stelle tun würde, wolle aber dessen freie Entscheidung in keiner Weise beschränken.
Hinter den zarten Anzeichen des Wandels steht nicht nur Realismus, sondern auch ein Generationswechsel. Die Serbisch-orthodoxe Kirche hat in den letzten zehn Jahren eine Reihe jüngerer Bischöfe geweiht. Diese sind politisch weniger belastet, weil sie während der Kriege meist noch nicht in Amt und Würden waren. Sichtbar wurde der neue Zugang im April 2005, als der damals erst 38 Jahre alte Oberhirte der Herzegowina der bosnisch-serbischen Zeitung Nezavisne novine ein bemerkenswertes Interview gab. Bischof Vladika Grigorije betonte, es gäbe überall in der Welt Gerichte. Wenn man vorgeladen werde, habe man dem zu folgen unabhängig davon, ob einem das Gericht gefalle oder nicht. So würden die serbischen Bischöfe handeln, und auch Karadzic solle sich beugen. Indirekt warf er Karadzic und dem ebenfalls flüchtigen General Mladic soziale Arroganz vor: "Ist es etwa akzeptabel, wenn der ältere Mann als heiliger und wichtiger gilt als die jungen Männer, die auf dem Schlachtfeld fielen und von diesen Älteren geleitet wurden?"
Bischof Grigorije machte sich damit zum Sprecher derer, die an den Entscheidungen der serbischen Kriegsführung keinen Anteil hatten, aber unter den Folgen leiden mussten. Damit steht er in der neuen Klerikergeneration nicht allein. Die Haager Angeklagten gehörten nicht zu ihrem persönlichen Netzwerk, und das senkt in der Regel ihre Bereitschaft, sich und die Gesellschaft zu "Geiseln" untergetauchter Serbenführer machen zu lassen.
Wie lange wird es noch dauern, bis serbische Bischöfe mit den Namen der Gesuchten nicht nur das Unglück der eigenen Nation, sondern auch konkrete Kriegsverbrechen assoziieren? Es hat den Anschein, als sei auch das "nur" eine Frage der Zeit.
aus: der überblick 01/2007, Seite 54
AUTOR(EN):
Klaus Buchenau
Dr. Klaus Buchenau ist Historiker am Osteuropa-Institut der FU Berlin, erforscht seit einem Jahrzehnt die
Religionsgeschichte Südosteuropas. Seine Schwerpunkte sind dabei der Raum des ehemaligen
Jugoslawien und das orthodoxe Christentum. Zur Zeit ist er Stipendiat der Alexander von
Humboldt-Stiftung in Moskau.