An seiner Südgrenze ist Mexiko ein Einwanderungsland
Den Grenzfluss im Süden Mexikos zu überwinden, ist vergleichsweise einfach. Deshalb findet man in den Orten der Grenzregion viele Arbeitskräfte aus Mittelamerika. Für Migranten im Transit, die in die Vereinigten Staaten einwandern wollen, kommen die wirklichen Hürden erst unterwegs.
von Martha Rojas Wiesner und Hugo Angeles Cruz
Mexiko ist ein Einwanderungsland. Darin ist das riesige Land allerdings nicht einzigartig; es teilt dieses Merkmal mit anderen Ländern. Aber Mexiko ist südlicher Nachbar der Vereinigten Staaten - eines Landes, das eine große Anziehungskraft auf Menschen aus den verschiedensten Breiten ausübt. Zweifellos hat die Nachbarschaft zu den Vereinigten Staaten entscheidenden Einfluss auf einige der Migrationsprozesse und Bevölkerungsbewegungen im heutigen Mexiko. Jedoch wirken auch noch andere Faktoren, etwa Mexikos Politik im zwanzigsten Jahrhundert, unzählige Exilierte und politisch Verfolgte aus verschiedenen Ländern aufzunehmen. Die Komplexität der Völkerbewegungen hat dazu geführt, dass Mexiko bei der Migration eine dreifache Rolle spielt: erstens als Auswanderungsland, zweitens als Einwanderungsland und schließlich als Durchreiseland für Migranten.
Eine Unmenge an Literatur dokumentiert die Auswanderung von Mexikanern, hauptsächlich in die Vereinigten Staaten. Diese ist eine nicht wegzudenkende Fassette der Geschichte unseres Landes im 20. Jahrhundert gewesen. Auf nationaler Ebene hat die Migrationsbewegung starke Auswirkungen auf die Wirtschaft, die soziale Lage, auf Kultur und Politik. Auf lokaler und regionaler Ebene hat die Migrationserfahrung in Richtung USA die kulturelle Entwicklung erheblich beeinflusst und zur Bildung neuer Identitäten geführt - sowohl bei denen, die auf der anderen Seite der Grenze leben, als auch bei denen, die in ihren mexikanischen Herkunftsorten bleiben.
Auch als Aufnahmeland spielt Mexiko geschichtlich eine Rolle. Aus verschiedenen Gründen leben auf seinem Gebiet Volksgruppen, die aus verschiedenen Ländern der Welt stammen. Einige bleiben nur kurzfristig, andere für einen längeren Zeitraum, und wieder andere lassen sich auf Dauer in Mexiko nieder. Vor allem als Zufluchtsland ist Mexiko anerkannt. Erwähnenswert ist, dass im Süden Mexikos in den achtziger Jahren tausende von guatemaltekischen Flüchtlingen aufgenommen worden sind. Einige von diesen sind mittlerweile in ihr Geburtsland zurückgekehrt, andere haben sich entschieden, in dem Land zu bleiben, das sie aufgenommen hat, und sich um die mexikanische Staatsangehörigkeit beworben.
Als Transitland spielt Mexiko - was selten beachtet wird - auf Grund seiner geografischen Lage eine wesentliche Rolle in der internationalen Migration. Auf der Suche nach dem "amerikanischen Traum" bemühen sich Männer und Frauen jeglichen Alters aus Zentralamerika und anderen Ländern der Welt, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Sie müssen dazu das riesige mexikanische Territorium durchqueren und zahlreiche Hindernisse überwinden, und manchmal riskieren sie dabei ihr Leben. Der Weg vom Fluss Suchiate, der Guatemala von Mexikos Bundesstaat Chiapas trennt, bis hin zum Río Bravo, der die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten bildet, hat sich zur Haupteinreiseroute für Migranten aus anderen Ländern entwickelt, ob mit oder ohne Ausweispapiere.
Die südliche Grenze Mexikos erstreckt sich über eine Länge von 1139 Kilometern, davon bilden 962 Kilometer die Grenze zu Guatemala und 176 die zu Belize. In dieser Grenzzone gibt es insgesamt 21 Gemeinden, von denen 16 zum Bundesstaat Chiapas gehören, zwei zu Campeche, zwei zu Tabasco und eine zu Quintana Roo.
Aus wirtschaftlichen, politischen und strategischen Gründen ist lange Zeit der nördlichen Grenze Mexikos sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet worden als der südlichen. In letzter Zeit findet jedoch auch die Südgrenze wieder mehr Beachtung. Sie wurde in den siebziger Jahren gewissermaßen wiederentdeckt und in den Achtzigern mehr beachtet, weil in der Region Öl entdeckt worden war, weil man (vor allem in Chiapas) Wasserkraft zur Stromgewinnung nutzte und Orte wie Cancun zu touristischen Zentren ausbaute. Zum anderen haben sich Ströme von Flüchtlingen, die der Gewalt in Guatemala entflohen waren, jenseits der Grenze in Mexiko angesiedelt.
Mexikos Grenze zu Belize und Guatemala ist gleichzeitig die zwischen Nord- und Mittelamerika. Doch führt in dieser Grenzregion - wie in manch anderer auch - der alltägliche grenzüberschreitende Handel und kulturelle Austausch dazu, dass nationale Identitäten eine geringere Rolle spielen. Ferner lebt der Identitätszusammenhang der Völker aus der Zeit vor der spanischen Eroberung im heutigen Südosten Mexikos und angrenzenden mittelamerikanischen Ländern fort.
Die Region des Soconusco ist das verkehrsreichste Gebiet an der Südgrenze Mexikos. Hier konzentriert sich der grenzüberschreitende Handel und hier ist das Einfallstor für den Transit von Migranten aus Mittel- und Südamerika, aber auch Asien und Afrika, die in die Vereinigten Staaten gelangen wollen. Großplantagen, vor allem im Kaffeeanbau, prägen hier die Wirtschaft. Aber auch Handarbeit ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Fast ein Jahrhundert lang haben guatemaltekische Landarbeiter zum wirtschaftlichen Fortschritt dieser Region beigetragen. In den letzten Jahren hat jedoch die Zuwanderung von Arbeitskräften für andere Branchen an Bedeutung gewonnen. Es kommen jetzt viele Frauen aus Mittelamerika, die in den Stadtzentren der Region arbeiten, etwa die guatemaltekischen Hausmädchen, die Arbeiterinnen in der Sexindustrie oder Frauen, die als Angestellte im Handel und anderen Dienstleistungsbetrieben arbeiten.
Familien der Mittel- und Oberschicht in der Stadt Tapachula etwa zählen mittlerweile auf die Dienste von Hausangestellten guatemaltekischer Herkunft. Und viele Jugendliche aus dem westlichen Guatemala, meist indigener Herkunft, arbeiten lieber in den Städten auf der mexikanischen Seite als Hausangestellte, als weiter in Guatemala arbeitslos und arm zu bleiben.
Nicht wenige Frauen aus Mittelamerika arbeiten in der Sexindustrie, wo sie mehr Geld zu verdienen hoffen. In den Rotlichtbezirken von Grenzstädten wie Ciudad Hidalgo kommen 90 bis 95 Prozent der Frauen aus Guatemala, Honduras oder El Salvador. Diese Frauen sind - ohne Einreise- und Arbeitserlaubnis - oft völlig von den Besitzern der Bars und Nachtclubs abhängig und werden entsprechend ausgebeutet. Sie sind stets gefährdet, AIDS und andere Geschlechtskrankheiten zu bekommen.
Ein großer Teil der Zuwanderer aber durchquert nur mexikanisches Gebiet, um in die USA zu gelangen. Dieser Migrantenstrom ist in den letzten Jahren beständig angestiegen, besonders Ende 1998 nach dem Hurrican Mitch, der in Mittelamerika anhaltende Verwüstungen angerichtet hat. Unzählige Männer, Frauen und Kinder haben sich aufgemacht auf den Weg in die Vereinigten Staaten, ohne jede Auslandserfahrung und ohne ein soziales Netz, falls sie auf diesem langen, ungewissen Weg scheitern.
Als Fremde - in der Regel ohne Papiere - sind die Migranten quasi Freiwild, zumal die Frauen und Indigenen. Das hängt auch mit der Straflosigkeit zusammen, die auf den Transitrouten herrscht. Stets in der Angst, ohne Papiere aufgegriffen und abgeschoben zu werden, sind sie gewalttätigen Übergriffen oder Erpressungen seitens der Behörden ausgesetzt. Infolge schärferer Einreisekontrollen sehen sich die Migranten gezwungen, neue Reisewege zu finden, und dort werden sie leicht von gewöhnlichen Verbrechern überfallen, die mit brachialer Gewalt vorgehen.
Laut Angaben einer Hilfsorganisation, die von der mexikanischen Regierung zum Schutz von Migranten gegründet worden ist und im Grenzgebiet des Soconusco an der Grenze zu Guatemala arbeitet, gehen bei den von ihr betreuten Opfern 51 Prozent der Überfälle auf das Konto verschiedener Repräsentanten des Staates und 49 Prozent auf das gemeiner Verbrecherbanden. Überfälle, Vergewaltigungen, Erpressung und Missbrauch staatlicher Gewalt seien an der Tagesordnung.
Auf diese Weise hat sich das Grenzgebiet für die Zuwanderer ausgedehnt, ist ein großes Gebiet zur Gefahrenzone für Migranten geworden. Den Fluss Suchiate nach Mexiko zu überqueren, bereitet Migranten, die um jeden Preis in die Vereinigten Staaten gelangen wollen, keine Schwierigkeiten. Er ist nicht die Grenze. Die wirklichen Grenzen, auf die Migranten aus Mittelamerika und anderen Ländern treffen, sind die entlang ihres langen Weges durch Mexiko.
Menschenrechtsvertreter verlangen deshalb von den mexikanischen Behörden, eine Einwanderungspolitik umzusetzen, die den Menschenrechtsverletzungen im Süden Mexikos ein Ende setzt. Eine Politik, die sich auch für die Menschenrechte der Mexikaner und Mexikanerinnen einsetzt, die auf der Suche nach einem besseren Leben in die Vereinigten Staaten auswandern. Eine Politik, die sich gleichzeitig um die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in den Ländern kümmert, aus denen die Einwanderer nach Mexiko kommen.
aus: der überblick 04/2000, Seite 51
AUTOR(EN):
Martha Rojas Wiesner:
Martha Rojas Wiesner arbeitet als Wissenschaftlerin im Fachbereich Bevölkerung und Gesundheit des Colegio de la Frontera Sur (ECOSUR) in Tapachula im Bundesstaat Chiapas, Mexiko. Gemeinsam mit Hugo Angeles Cruz arbeitet sie in einem Forschungsprojekt zur Migration von Frauen und Kindern aus Guatemala.
Hugo Angeles Cruz:
Hugo Angeles Cruz arbeitet gemeinsam mit Martha Rojas Wiesner an einem Forschungsprojekt zur Migration von Frauen und Kindern aus Guatemala nach Mexiko.