Der Tod - ein Fest fürs Leben
Bei den Dogon tanzen Masken, bei den Asante spielen Trommler und Hornbläser auf. So unterschiedlich die Beerdigungsrituale auch sein mögen, eins haben sie gemeinsam: Sie dienen dazu, von den Verstorbenen würdig Abschied zu nehmen.
von Bartholomäus Grill
Die Falaise von Bandiagara in Mali, 140 Kilometer breit, 300 Meter senkrecht aus der Ebene von Gondo wachsend. Ein jäher Felsabsturz, schier unüberwindlich. Der Blick klettert die Steilwand hoch und bleibt an sonderbaren Gebilden hängen. Man hält sie zunächst für Formationen, die Wind und Wetter aus dem Granit gefressen haben. Dann erkennt man Turmkegel, Fensterlöcher, glattes Mauerwerk - puebloartige Bauten, Wehrdörfer, die sich wie Taubenkobel in die Steinwände krallen. Hoch über den Strohdächern liegen Höhlen, angeordnet in der Stereometrie von Bienenwaben - die Behausungen der Telem, der kleinwüchsigen Ureinwohner. Sie wurden irgendwann zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert von einem Volk verdrängt, das vor den heiligen Kriegern des Islam aus dem Land der Mande geflohen war und in der Felsenburg von Bandiagara Zuflucht fand: die legendären Dogon.
Es dunkelt bereits, als wir Sanga, das Haufendorf direkt an der Abbruchkante erreichen. Unheimlicher Lärm am anderen Ende des Ortes. Schüsse, Radau, kriegerisches Gejohle. Was ist dort los? Ein Totenspiel, beruhigt uns ein Bauer, der von den Zwiebelfeldern heimkehrt. Im Schein von Strohfackeln strömen Menschen aus nah und fern zusammen. Wir sehen tanzende Schatten, Vorsänger auf den Dächern, alte Frauen, die mit Kürbisscherben Sandstaub über ihre Schultern schippen - die Hirse, die der Verstorbene geerntet hat. Männer stürmen mit Speeren auf sein Haus zu, führen Scheinkämpfe auf, feuern aus rostigen Flinten. Die Schüsse sind ihre Tränen, sagt der Volksmund. Und das ekstatische Ringen zeichnet den Schicksalsweg des Toten nach. Eine furiose Zeremonie, seltsam frohsinnig anmutend. Der Radau geht Stunde um Stunde, wird lauter, ebbt ab, hebt wieder an. Der Tod - ein Fest fürs Leben.
Ich liege längst unter freiem Himmel auf dem Dach einer Herberge und sinke, begleitet von dem fernen Missklang aus Trommeln, Rasseln, Ratschen, Trillerpfeifen und Gesängen in tiefen, traumlosen Schlaf.
Nach Sonnenaufgang steige ich hinab in die Felsnester, durch Schluchten und Steindome, in denen die Melodie des Morgens widerhallt. Vogelgezwitscher, muhende Kühe, scheppernde Kübel, das Tok-Tok von Äxten. Das Tagwerk hat mit dem ersten Hahnenschrei begonnen. Da werden Blechtöpfe gescheuert und Baumwollfäden gesponnen, Steine zu Baumaterial zertrümmert, Risse im Lehmgemäuer gekittet oder Ziegen geschlachtet und gehäutet. Die Alten plaudern, rauchen, kauen Kolanüsse im Schlagschatten der togu na. In diesem auf Steinsäulen ruhenden Unterstand wird Rat gehalten und Recht gesprochen. Die togu na ist das Herz der gerontokratischen Ordnung, der Herrschaft der Ältesten, und die Keimzelle der Gemeinschaft; das Dorf wird um sie herum gebaut wie die Organe und Glieder des menschlichen Körpers.
Die Alten erzählen, dass heute die Masken tanzen, unten, im Dorf Tereli, wo zwei Leute zu den Ahnen gegangen sind. Ich erreiche Tereli gerade rechtzeitig zum Beginn der Rituale. Männer, Frauen und Kinder, exakt nach Sektoren und Himmelsrichtungen getrennt, drängeln um die ovale Freiterrasse in der Dorfmitte. Auf Felsnasen stehen Rufer, die die Masken herbei bitten. Sie schweben aus dem Labyrinth der Lehmhäuser: Affengesicht, Stierschädel, Gazellenkopf, vieläugige Fratzen, die Krankheitsmaske mit dem enormen Kropf, drei Echsenmasken, ähnlich dem Lothringer Bischofskreuz.
Die Masken sammeln sich auf dem Platz, hüpfen, kreiseln, fetzen herum wie entsprungene Fohlen. Mittendrin eine fünf Meter hohe, schmale Planke: sirige, die Schlangenmaske. Die Masken werden getragen von barfüßigen Männern in violetten Baströcken und Armrüschen - es sind die Faserkleider der Termite und der Ameise, der beiden Frauen des Gottes Amma. Eine Stelzenpuppe mit Irokesenschopf, ledernen Spitzbrüsten und schwerem Schneckengepränge stakst aus dem Hintergrund. Schwirrhölzer singen, Trommeln dröhnen. Die Masken ringen, drohen, tanzen, leichtfüßig, scheinbar improvisierend, dann wieder figural, mechanisch wie ein Uhrenspiel.
Am Ende neigt sich sirige in akrobatischem Pendelschwung auf die Totentücher nieder. Sie nimmt das nyama der Verstorbenen auf, jene Urkraft, die die gesamte Schöpfung durchpulst, die Menschen und Tiere, die Pflanzen und selbst die Steine. Wird diese Energie nach dem Tod nicht gebunden, irrt sie über die Dörfer und richtet Unheil an.
Aber das sind die Deutungen von fremden Wissenschaftlern, genaueres wissen wir nicht. Der Tanz der Masken bleibt ein Ritual der Rätsel, in dem sich die Welten der Lebenden und Verstorbenen verschwistern. Wobei wir uns die Ahnen nicht als tote Seelen vorzustellen haben, sondern als wirkmächtige, real existierende Wesen. Sie regieren in den Alltag hinein, helfen den Hinterbliebenen oder strafen sie, man muss sich gut mit ihnen stellen, muss sie verehren, beschwichtigen und versorgen, indem man ihnen auf den Asen, den Altären, Speise- und Trankopfer darbringt. Wenn wir irgendwo Palmwein oder Bananenbier angeboten bekommen, wird zuerst ein Mundvoll auf die Erde gegossen, es ist der Schluck für die Ahnen.
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Die Botschaft braucht keine Zeitung, kein Radio, kein Telefon. Sie fährt auf Buschtaxis und Eselskarren, fliegt durch die Dörfer und Märkte, eilt über die Waldhügel, hinaus auf die Savanne, in die staubigen Ebenen Nordghanas. Sie erreicht uns dreihundert Kilometer vor Kumasi: Der Asantehene, der König der Asante, ist tot.
Kumasi, in normalen Tagen ein lebhaftes, hektisches Handelszentrum im Herzen Ghanas, ist nicht wiederzuerkennen. Die Stadt scheint paralysiert. In den Werkstätten ruhen die Hämmer. Das Gelächter in den Kneipen, das Gefeilsche auf dem Markt wirkt gedämpft. Die Straßen sind blitzblank, kein Müll, nirgendwo. Kumasi trauert um Otumfuo Opoku Ware II., den König der Asante. Aus allen Winden ziehen endlose Prozessionen hinauf zum Palasthügel. Die Menschen tragen Togas aus feingewobenem Kente-Stoff, anthrazitschwarz oder dunkelviolett gefärbt, dazu rote Stirnbinden und Halstücher. Über ihren Häuptern schweben Trommeln, bauchig wie Bierfässer, und breite scharlachrote Schirme und Seidenbaldachine. Die dunklen Ströme münden in das Menschenmeer vor dem Manhyia-Palast, in dem der Asantehene aufgebahrt ist.
Die Fürsten thronen unter den Sonnenschirmen, schöne, stolze, ernste Gesichter, umlagert von schwarzbehelmten Clanführern und Notabeln in hufeisenförmigen Trauben, wie Bienenschwärme, die sich um den Weisel, die Bienenkönigin, schließen. An der linken Flanke die Trommler und Hornbläser. Rechts die Träger der Zepter mit den vergoldeten Symbolen der jeweiligen Gemeinschaft, Panther, Widder, Ananasfrüchte, Drillingsköpfe. In der Mitte die Wächter, alte Vorderlader abfeuernd oder mit ihren Säbeln rasselnd.
Die Freifläche vor dem Palast ist unterdessen so voll, dass kein Durchkommen mehr ist. 300.000 Menschen, in einer Nacht und einem Tag herbeigeströmt, ein Querschnitt der Völker Ghanas: Mole-Dagomba aus dem Norden, Ga von der Küste, Gondja, Ewe. Und sämtliche Ethnien der Akan, deren größte die Asante bilden. Es ist ihr Herrscher, der zu den Ahnen geht. Hauteng drängen sie sich auf dem Platz, Körper an Körper, zur Einheit verschmolzen, gebändigtes Chaos, ein herrliches, furchterregendes Panorama von Masse und Macht.
Fünf Jahre vor dem Tod des Königs durfte ich einer Versammlung seines Hohen Rates beiwohnen und ein paar Worte mit ihm wechseln. Otumfuo Opoku Ware II. befand sich damals im Zenit seiner Macht. Er repräsentierte eine intakte altafrikanische Demokratie, die in den Stürmen der Modernisierung nicht zu einer folkloristischen Monarchie herabgesunken war. Die Herrschaft des Asantehene wurzelt in einer fein verästelten Hierarchie von Paramount-Chiefs, Häuptlingen und Obmännern, wird aber durch das Asantemanhyiamu genannte Konzil der Ältesten kontrolliert und in einem matrilinearen Auswahlverfahren von der Asantehemaa, der Königinmutter, bestimmt. Alle Untertanen sind in das strikte Militärwesen eingebunden, ein jeder befolgt das überlieferte Gewohnheitsrecht; es bricht im Zweifel sogar staatliches Gesetz. Auf großen Freuden- oder Trauerfesten werden die Bande zwischen Distrikten, Dörfern, Clans und Individuen gestärkt.
Die ersten Herrscher der Asante waren weitsichtige Reformer. Seit dem frühen 18. Jahrhundert entstanden zentralistische Verwaltungsstrukturen und ein ausgeklügeltes Tribut- und Steuerwesen. In den Goldbergwerken wurden Kriegssklaven ausgebeutet. Von den Europäern tauschte man Edelmetalle, Elfenbein, Kaffee, Kakao und Erdnüsse gegen moderne Feuerwaffen ein. Das technisch überlegene Heer unterwarf Nachbarvölker, die schnell assimiliert wurden. Und allmählich wich das alte Stammesdenken der Staatsidee.
Die Asante wurden reich, steinreich, dank des Goldes und einer neuen Profitquelle: Sklaven, die sie zu Abertausenden im Hinterland zusammenraubten und an weiße Menschenhändler verkauften. Aber über dieses Geschäft steht nichts in den Chroniken des Königshofes. Man preist lieber seine heutige Rolle als global player. Der Bergbaukonzern Ashanti Goldfields gehört zu den wenigen afrikanischen Unternehmen, deren Aktien an der Wallstreet gehandelt werden.
Ein scharfes Zischen über meinem Kopf. Ich drehe mich um - und werde schlagartig von einem kalten Schauer ergriffen. Da wächst ein pechschwarzer Hüne mit einer noch schwärzeren Perücke aus dem Boden. Er springt fuchsteufelswild herum, fuchtelt mit einem Säbel, rollt mit den Augen, klemmt die Waffe zwischen die Zähne, lässt sie krachend in die Scheide fahren. Ich muss dagestanden haben wie der kleine weiße Bub vor dem großen schwarzen Mann. Eine Hand fasst mich an der Schulter. "Sie sollten nicht seinen Weg kreuzen. Er ist einer der Abrafoo", erklärt eine zierliche Frau. "Das sind die Erzwinger des Gesetzes. Sie köpfen in den Trauernächten junge Männer aus der königlichen Sippe. Der Asantehene soll nicht alleine ins Dorf heimkehren."
Die Frau heißt Nana Yaa Ofori-Atta, ist eine Adelige und kennt die Überlieferung ziemlich genau. Das Wissen um die Menschenopfer in früheren Zeiten - man spricht von bis zu 3000 Personen, die ihrem König in den Tod folgen mussten - erfüllt die Asante mit abgründiger Furcht. Auch Nana Yaa ist sich nicht ganz sicher: "Dieser Kult wurde vor vielen Jahren verboten, aber man weiß nie..."
Wir trinken lauwarmes Wasser, das in Plastiktüten verkauft wird, und Nana Yaa entziffert die Zeichen um uns herum. Die geflochtenen Halskränze aus Immergrün, getragen von den Blutsverwandten des Königs. Die Helme der Chiefs, verbrämt mit grazilen Flinten, Musketen, Säbeln - Sinnbilder der Kampf- und Feuerkraft. Die Schwertknäufe, Schirmspitzen, Pulverhörner und Talismane, blitzendes Gold, Ursprung allen Reichtums. Es sind auch Weiße unter den Häuptlingen, europäische Geschäftsleute zumeist, die sich um die Wirtschaftsentwicklung verdient gemacht haben. Hinter jedem Würdenträger steht ein Gehilfe. Er richtet den Umhang, stützt seine Arme, trocknet den Schweiß, weist ihn herum. Unsichtbar müssen die Leibdiener, Schirmträger, Luftfächler und Lobsänger wirken, es sind Werkzeuge ihres Gebieters, die keinen Schatten werfen. Manchmal erheben sich die Chiefs, tanzen kryptische Figuren, setzten sich wieder auf kleine Schemel, Nachbildungen der sikwada, des goldenen Urstuhls, der einst vom Himmel fiel.
Dieses geheiligte Sitzmöbel symbolisiert die Unbezwingbarkeit der Monarchie und den Geist, der die Nation der Asante eint. 1874 warfen die Briten ihren Aufstand nieder, eroberten Kumasi und schleiften den Königspalast. Sikwada, ihren Gral, aber haben sie nie berührt. "Unsere Vorfahren foppten sie mit einer billigen Replik", erzählt Nana Yaa. Ghana errang 1957 als erstes Land Afrikas die Selbstständigkeit. Doch dem legendären Gründervater Kwame Nkrumah erging es wie der Königin von England zuvor und den Militärdiktaturen und Zivilregierungen danach: Alle bissen sich an den Asante die Zähne aus. Sie blieben unabhängig in einem unabhängigen Staat.
Die Menschenschlange ist auf viele Kilometer angewachsen. Sie windet sich die Palasttreppen hoch, durchs Portal, vorbei an der Bahre. Der Asantehene in ewiger Ruhe, übersprüht mit Goldstaub, auf Samt und Seide gebettet. Es ist verboten, stehen zu bleiben und in das wächserne Antlitz zu starren. Ich verneige mich unter dem beifälligen Nicken der Totenwächter. Ein weißer Mann erweist ihrem König die letzte Ehre.
aus: der überblick 02/2003, Seite 42
AUTOR(EN):
Bartholomäus Grill:
Bartholomäus Grill lebt als Journalist in Kapstadt. Diese Texte sind Vorabdrucke aus dem Buch "Ach, Afrika. Berichte aus dem Inneren eines Kontinents", das im Herbst 2003 beim Siedler Verlag Berlin erscheint. Sie beruhen auf Reportagen, die der Autor als Afrika-Korrespondent für die "Die Zeit" und "Geo" verfasst hat.