Ort der Trauer und der Politik
Für Angehörige von Menschen, die im Krieg oder bei Massakern umgekommen sind, ist es wichtig, ihre Toten beerdigen zu können oder sie in fremder Erde bestattet zu wissen. Nach Ende des Konflikts werden solche Friedhöfe teilweise zu Gedenkstätten, bei denen nicht nur die Toten betrauert werden, sondern auch politische Erinnerungsarbeit geleistet werden soll. Eine Befragung in Srebrenica ergab, dass ein Teil der Hinterbliebenen einen Ort der Trauer haben möchte, während andere Menschen darüber hinaus politische Ziele verfolgen.
von Craig Evan Pollack
Unter Ratko Mladic haben 1995 serbische Verbände in Srebrenica 7000 Männer verschleppt. Fünf Jahre später, im Sommer 2000, wurden die Überreste von über 4000 massakrierten Menschen aus Massengräbern und verstreuten Knochenfunden geborgen. Zunächst konnten weniger als 100 von ihnen identifiziert werden. Eine Bestattung, so glaubten die Hinterbliebenen, wäre die würdigste Form, die Gebeine aufzubewahren. Da die Leichen namenlos waren, wurde eine Gemeinschaftsstätte in der Nähe von Srebrenica für diesen Zweck bestimmt. Der Standort war umstritten, da er sich in der Republika Srpska befand, dem von Serben verwalteten Teil des Landes. Seitdem konnten mit Hilfe der DNA-Analyse noch mehr als über 1000 Menschen identifiziert werden.
Als der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina die Begräbnisstätte im Herbst 2000 bestimmte, gab er eine Presseerklärung heraus, nach der die Stätte einem doppelten Zweck dienen sollte: "Es gibt jetzt einen Ort, wo sie (Hinterbliebene und Verwandte) um ihre Toten trauern können und von wo sie und andere Menschen in Bosnien und Herzegowina versuchen können, mit der Vergangenheit fertig zu werden und eine Zukunft aufzubauen."
Die Hinterbliebenen hatten unterschiedliche Anliegen, je nachdem, ob sie politisch aktiv oder unpolitisch waren. Letztere wünschten für die Trauer um ihre Toten einen Ort, der ihren Traditionen entsprach. Personen, die in Interessengruppen und politischen Organisationen mitarbeiteten, sahen Bestattungen als ein Mittel, um politische Ziele zu erreichen.
Die Hinterbliebenen, die keinen Interessengruppen angehörten, wünschten Bestattungen, damit sie die Gräber besuchen, sie säubern und dort beten konnten. So wünschte Nada" aus Visca ein "richtiges Grab" für ihren vermissten Sohn: "Ich würde ihn lieber bestatten, damit ich weiß, wo er ist. Auch wenn sie alle zusammen bestattet werden, ist das in Ordnung. ... Damit er identifiziert werden kann und ich wirklich weiß, wo er ist."
Auf der Straße zwischen Banovici und Zvinici in einem Hof mit überfüllten Stadthäusern traf ich eine entwurzelte Frau namens Sanela. An der Wand hing eine Fotocollage ihrer vier vermissten Söhne. Sie war froh, dass die Bestattung in Potocari stattfand. "Es ist eine Schande, dass diese Leichname seit drei Jahren im Zentrum in Säcken lagern und nicht richtig bestattet werden. Ich möchte, dass sie bestattet werden - dass die Namen meines Mannes und meiner Söhne genannt werden. Ich weiß nicht viel über Gedenkstätten. Ich möchte nur wissen, wo sie bestattet sind."
Nur sehr wenige Hinterbliebene hatten das Glück, dass ihre Angehörigen gleich identifiziert wurden. Einige von ihnen hatten beschlossen, nicht auf eine Gemeinschaftsbestattung zu warten und die Leichname statt dessen selbst zu bestatten. Trotz starker finanzieller Belastungen - dazu gehörte auch eine für die Freigabe der gelagerten Leichname zu zahlende Steuer - war ein noch längeres Warten zu schmerzhaft für sie. Nach den Bestattungen fühlten sie sich besser.
Im Gegensatz zu Menschen, die stärker politisch engagiert waren, sprachen nur eine Handvoll Hinterbliebener von der Bestattung als etwas, was die politische Situation verändern oder als Mahnmal für die Welt dienen sollte. Ein junges in Mrdici lebendes Paar beschrieb die Doppelrolle der Gedenkstätte: "Damit wir (die Welt) an das Geschehene erinnern können, und wenn wir unsere Familienangehörigen identifizieren, damit sie da sein können". Da dies der Zweck war, war es für das Paar nicht besonders wichtig, was an der Stätte zu sehen war, und es wäre mit "allem einverstanden", was beschlossen würde.
Nach Auffassung der Hinterbliebenen sollte die Bestattung ihrer Angehörigen vor allem ermöglichen, Trauerarbeit für die ungeheuren Verluste zu leisten. Bei allen ihren Aussagen brachten die Hinterbliebenen zum Ausdruck, dass es ihnen um eine angemessene Bestattung nach muslimischem Brauch, die Identifizierung ihrer Angehörigen und einen Besuchsort ging.
Hinterbliebene, die Politiker waren oder Angehörigengruppen vertraten, sprachen dagegen mit Blick auf die Bestattung nicht von Trauerarbeit. Für sie waren Bestattungen vielmehr eine Form der Anerkennung. Dabei gab es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Anerkennung durch wen und zu welchem Zweck.
Damir, der bei dem Massaker seinen Vater und Bruder verloren hatte, ist jetzt in einem Familienverband aktiv: "Sagen wir es so: Die serbische Flagge ist eine Erinnerung an den Sieg, und die Gedenkstätte [Begräbnisstätte] ist eine Erinnerung an den Völkermord. Wenn ich die Flagge ansehen muss, dann müssen die Serben die Gedenkstätte ansehen, und sie müssen das akzeptieren." Für Damir erinnerte die Begräbnisstätte an das Massaker, und durch die Anerkennung des Massakers werde sogar die Existenz der Republika Srpska (RS) in Frage gestellt. "Die Stätte wäre ein Hinweis darauf, dass die RS auf Blut gebaut ist, dass die Einrichtung, dass das Land selbst auf Blut gebaut ist. Die Stätte würde die Welt daran erinnern, dass es ein Land, das auf Blut gebaut ist, nicht geben sollte, und vielleicht würde es dann eine Revision des Dayton-Abkommens geben. Mein Ziel ist es, dass Bosnien wieder ein geeintes Land wird." Für Damir war die Beisetzung ein Weg zu zeigen, wie die Vergangenheit die gegenwärtige politische Situation geformt hat und die Zukunft verändern könnte.
Mirsad hatte ein Amt im multi-ethnischen Stadtrat von Srebrenica inne und war bei dem Angriff durch die Wälder geflohen. Für ihn hat die Gedenkstätte den Zweck, die ethnische Säuberung von Srebrenica zu verhindern. "Wenn die Serben nicht erlauben, dass die Getöteten in Potocari [bei Srebrenica] bestattet werden, dann werden Muslime völlig aus Srebrenica und Umgebung verschwinden, und das ist das eigentliche Ziel der Serben, denn dann können sie behaupten, das dies nie eine muslimische Stadt gewesen sei." Wie Damir glaubte Mirsad, dass die serbischen Pläne zur ethnischen Säuberung konterkariert würden, wenn durch die Bestattung die Leichname von Muslimen in der Region blieben.
Doch für Mirsad gab es noch ein anderes politisches Ziel: "Als Politiker sage ich ihnen, dass es uns nicht nur darum zu tun ist, diese Menschen hier in Srebrenica und Potocari neu zu bestatten, sondern wir versuchen die Bestattung in Srebrenica zu nutzen, um irgendwie einen Sonderstatus für Srebrenica zu erreichen, wie es bereits in den Resolutionen der Vereinten Nationen beschlossen worden ist." Er hält den Beschluss der Vereinten Nationen über die Schutzzone für "noch gültig". Damit könnte er genutzt werden, "um die internationale Staatengemeinschaft zu drängen, mehr für Srebrenica und Umgebung zu tun".
Fast alle Familienverbände und Politiker sprachen über das umfassendere Ziel, durch das Gedenken an die Tragödie künftige Massaker verhindern zu können. Simicic, ein in Tuzla lebender Politiker, wünschte sich bei der Grabstätte ein Museum mit "Fotos, Publikationen, Videos und allem, was gesammelt worden ist, damit Menschen dorthin kommen und recherchieren können und eine Vorstellung von dem Geschehenen bekommen." Das Museum - Srebrenica - solle der Welt als warnendes Beispiel dienen, dass dies überall geschehen könnte: "Wenn wir ein Verbrechen, einen Völkermord vergessen, wird es wieder Kriegsverbrechen geben."
Für die Vertreter von Interessengruppen und Regierungen liegt der Sinn der Bestattung darin, dass das Massaker damit dokumentiert und als Ursache der gegenwärtigen Lebensbedingungen und der aktuellen politischen Situation anerkannt wird - und zwar sowohl durch die Serben, als auch durch die internationale Staatengemeinschaft und die Welt insgesamt. Das würde dazu beitragen, die serbische Macht zu brechen und künftige Massaker zu verhindern.
Während die Bestattung für die einen eher eine persönliche Angelegenheit der Trauer ist, spielt für andere die politische Dimension eine wichtige Rolle. Die Bedeutung der Trauerarbeit beruht auf den Glaubensüberzeugungen der bosnischen Muslime bezüglich der Seele der Verstorbenen und der Bestattungstraditionen. Mit der angemessenen Vorbereitung des Leichnams durch Waschen und Einwickeln in ein weißes Tuch können die Trauernden ihre Trauer um die Verstorbenen lindern. Anschließend werden Gebete gesprochen, damit die Seele die Grenze von dieser zur anderen Welt überschreiten kann. Die Bestattung hilft nicht nur der Seele des Toten, sondern verschafft auch den Lebenden religiöse Verdienste und wird zu einem Ereignis, bei dem Menschen zusammenkommen und sich auf gegenseitige Unterstützung verlassen können.
Diese religiösen Bestattungspraktiken beruhen darauf, dass der Leichnam des Verstorbenen präsent und identifiziert ist, während im Falle von Srebrenica fehlende und nicht identifizierte Überreste viele der Riten nicht zulassen. Die Gemeinschaftsbestattung ist dann eine Neudeutung des Ritus - sie bietet Familienangehörigen die Möglichkeit, ihre Verpflichtungen gegenüber den Toten zu erfüllen, und der Gemeinschaft die Möglichkeit, zusammenzukommen und den Verlust anzuerkennen.
So gesehen ist die Gemeinschaftsbestattung in vielerlei Weise eine erfolgreiche Anpassung. Doch sie hat auch Grenzen, wie ein anderes Beispiel zeigt. Die Stadt Glumina - sie ist wie Srebrenica im Osten von Bosnien-Herzegowina gelegen - wurde ebenfalls vom serbischen Militär überfallen. Über 200 Leichname wurden aus einem Massengrab ausgegraben, von denen etwa die Hälfte später identifiziert wurde. Im Jahre 1999 kamen Familienangehörige aus Glumina mit Politikern, religiösen Führungskräften und Tausenden von Trauernden zusammen, um die Leichname in einer Gemeinschaftsstätte neu zu bestatten.
In Gesprächen mit Angehörigen der Familien und Einwohnern von Glumina wird deutlich, welche unterschiedlichen Gefühle eine Gemeinschaftsneubestattung auslösen kann: unangenehm empfundenen Druck, Vorbehalte und auch Erleichterung. Eine Hinterbliebene, deren Kind in Glumina bestattet wurde, meinte: "Es fällt schwer, zurückzugehen und so viele Gräber zusammen zu sehen". Damit artikulierte sie etwas, das von keinem meiner Gesprächspartner in Srebrenica erwähnt worden war - nämlich dass Menschen Schwierigkeiten damit haben, ihre Angehörigen in Gemeinschaftsgräbern zu wissen. Zwar ist es wichtig, sich zu erinnern, doch das Gedächtnis kann eine schwere Last sein.
Eine andere Frau, mit der ich sprach, war unzufrieden damit, dass ihr Sohn in Glumina bestattet war, meinte jedoch, sie hätte keine andere Wahl gehabt. Der Vertreter der Ortsgemeinde lasse eine Bestattung ihres Sohnes in der Nähe ihres Hauses nicht zu, denn "das Massaker würde vergessen, wenn sie getrennt bestattet würden." Gemeinschaftsbestattungen können also die Angehörigen zu einer Entscheidung drängen, die sie so alleine nie getroffen hätten.
Die gemeinschaftliche Beerdigung eignet sich gut für politische Zwecke. So wird nicht ein Trauernder in eine Gemeinschaft einbezogen, sondern Tausende von Trauernden werden in eine Gemeinschaft von Trauernden und in die umfassendere Gemeinschaft in Bosnien hineingestellt. Leiter von Familieninteressengruppen und Politiker sind sich deutlich bewusst, welches Potenzial in der Gemeinschaftsbestattung steckt, um die Vergangenheit anzuerkennen, die Gegenwart zu definieren und die Zukunft zu gestalten.
Die gemeinschaftliche Beerdigung schafft eine Arithmetik der Toten, wobei Leichnam um Leichnam dazu beiträgt, dass es sich um mehr handelt, als die Summe der Begrabenen. Die Wirkung der Leichen wird in solchen Fällen noch durch Informationszentren und Museen verstärkt. Die Bestattung ist dann nicht mehr soziale Rekonstruktion der beiden Gemeinschaften in Srebrenica, sondern eine Erinnerung an die ethnische Säuberung, die dieser entgegenwirkt.
Wenn Trauerarbeit und Bestattung eine Plattform für die Politik sind, dann besteht die Gefahr, dass die politischen Auseinandersetzungen die Trauerarbeit als Funktion von Bestattungen überschatten. Familieninteressenverbände und Politiker, die im Namen von Hinterbliebenen sprechen, unterstreichen andere Aspekte der Bestattung und des Gedenkprozesses als die Hinterbliebenen selbst.
*Alle Namen wurden vom Autor geändert. Die Interviews fanden im Sommer 2000 statt.
Literatur
T.W. Laqueur: The Dead Body and Human Rights. In: Sean T. Sweeney and Ian Hodder (Hrsg.): The Body, United Kingdom: Cambridge University Press 2002
Islamische BestattungsritualeDie rituelle Totenwaschung und das NachtrauernVor der Beerdigung erfolgt die rituelle Totenwaschung, die den Verstorbenen von den irdischen Sünden reinigen soll. Sie kann im Vorhof oder Waschraum einer Moschee stattfinden. Dabei ist darauf zu achten, dass der oder die Tote von Verwandten desselben Geschlechts gewaschen werden. Wenn Angehörige sich nicht auskennen, leitet sie eine erfahrene Waschfrau an. Der Leichnam wird auf einen Tisch gelegt und mit einem Tuch zugedeckt. Begonnen wird mit der Waschung der rechten Körperseite und so lange wie erforderlich bleibt das Tuch über Bauch und Geschlecht liegen. Mit Seifenwasser werden alle Körperstellen - Gesicht, Hals, Arme, Hände, Brustkorb, Geschlecht, Beine, Füße - sorgfältig gereinigt. Mindestens dreimal wiederholt sich die Prozedur. Am Ende wird der Leichnam mit einer Kampferlösung übergossen. Danach hüllt man den Leichnam in ein weißes, ungenähtes Leichentuch. Während der Waschung werden Korantexte rezitiert. Viele Trauergäste bleiben noch einige Tage in der Nähe der Trauernden, um sie zu trösten und sich um sie zu kümmern. Nachbarn sorgen in dieser Zeit für die Speisen und Getränke. Die Kondolenzzeit beträgt rituell drei Tage, wird oft aber ausgedehnt. Die Hinterbliebenen verlassen in dieser Zeit nicht das Haus. Während der ersten 14 Tage werden im Haus alle Spiegel verhängt, und alles gemieden, was Freude verschaffen könnte. Musik hören ist in dieser Zeit tabu. Weinen, sich die Haare raufen oder auf dem Boden wälzen, das Gesicht zerkratzen, all das sind typische Ausdrucksformen der Trauer. In Klageliedern werden die guten Eigenschaften des Verstorbenen hervorgehoben, es kommt zu Selbstanklagen und Beschuldigungen. Es ist gesellschaftlich akzeptiert, dass die "Mitweinenden" währenddessen ihre eigenen zuvor verstorbenen Angehörigen beweinen. Die offizielle Trauerzeit dauert bis zu einem Jahr, die sich in verschiedene Phasen aufteilt: Nach Ablauf von 40 Tagen wird die Trauerzeit erneut mit einer Zeremonie abgelöst und es gibt tatli hleva, eine Art süßen Nachtisch. Die Trauernden sind nun wieder "gesellschaftsfähig". Nach einem Jahr, wenn das Grab durch Stein oder Beton eingefasst ist, gibt es wieder eine Zeremonie. Renate Giesler |
Suche nach den toten AngehörigenDie offenen Gräber des IrakDie Frau ruft immer wieder: "Hörst Du mich, mein Sohn?" Sie hat gerade sein Grab gefunden, Nummer 840 auf dem Friedhof Al-Karj. In der hintersten Ecke gibt es keine Grabsteine, nur Nummern auf Metallschildern. Dort wurden die Toten aus Abu Graib beerdigt, dem berüchtigten Gefängnis im Westen Bagdads. Saddam Hussein ließ dort missliebige Landsleute quälen und töten. 290.000 Menschen, so schätzen Menschenrechtsorganisationen vorsichtig, sind im Irak verschwunden. Sie wurden aufgegriffen und verschleppt, weil sie Kurden oder Schiiten waren, weil sie oppositioneller Umtriebe verdächtigt wurden oder weil jemand mal wieder ein Exempel statuieren wollte. Nur wenige Angehörige bekamen einen Totenschein und damit traurige Gewissheit. Viele andere mussten jahrelang warten, von der Vorstellung geplagt, was ihren Kindern, Eltern, Gatten und Geschwistern angetan wurde und doch wider besseren Wissens hoffend, dass sie noch leben. Nun hat der gefürchtete Diktator keine Macht mehr über sie, jetzt können sie suchen. In den Gefängnissen, in den Quartieren von Armee und Polizei, in den Büros der Staatspartei und einzelner Ämter. Dort hat man zum Teil penibel Buch geführt, hat nicht nur vermerkt, wer wann, sondern manchmal auch wer von wem und wie getötet wurde. Vor allen Dingen aber suchen sie auf den Friedhöfen. Immer neue Massengräber hat man im April und Mai entdeckt. Allein in Hilla sollen 15.000 Tote liegen. Fast täglich findet man irgendwo im Land noch ein Feld, auf dem Menschen verscharrt wurden. Und überall graben nun die Hinterbliebenen nach ihren vermissten Angehörigen, manchmal unterstützt von Totengräbern und anderen Ortskundigen. Zum Teil wühlen sie mit bloßen Händen in der Erde - im verzweifelten Bemühen, an Hand von Kleidungsresten oder persönlichen Gegenständen einen Toten identifizieren zu können. Die Suche verschafft einigen Angehörigen Gewissheit, doch sie macht sie möglicherweise für andere unmöglich. Selbst unter günstigen Umständen, also in Ruhe und mit Hilfe von Fachleuten und ihren forensischen Hilfsmitteln, ist es schwierig, die Identität von Ermordeten festzustellen und zu dokumentieren, welche Verbrechen an ihnen begangen wurden. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die einige Mitarbeiter in den Irak entsandt hatte, hat deshalb die Besatzungstruppen dafür kritisiert, dass sie die entdeckten Beerdigungsstätten nicht gesichert und gemeinsam mit Irakern geschützt haben. Auch Sergio Vieira de Mello, der Hohe Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, hat sich besorgt gezeigt, dass Beweise über schwere Menschenrechtsverletzungen unwiederbringlich zerstört würden. Doch viele Hinterbliebene wollen nicht warten. Sie wollen so schnell wie möglich Gewissheit - und sie wollen ihre toten Angehörigen wenigstens anständig begraben. Deshalb tragen sie zusammen, was für sie die Überreste ihres Vermissten sind, schlagen sie in Laken ein oder legen sie zum Transport in Särge. Dann machen sich die Schiiten unter ihnen auf nach Najaf, zum größten Friedhof der Welt, wo ihre Toten die letzte Ruhe finden. rwl |
aus: der überblick 02/2003, Seite 45
AUTOR(EN):
Craig Evan Pollack:
Craig Evan Pollack ist Medizinstudent an der "University of California" in San Francisco. Er erforscht insbesondere, wie soziale Faktoren die Gesundheit beeinflussen. Dieser Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Artikels der in "Death Studies" No. 27/2003 erschienen ist.