Erinnerung an den Terror des Moi-Regimes
Wenn von der Banalität des Bösen die Rede ist, dann ist dieser Ort wohl ein gutes Beispiel: Eine Tiefgarage mitten in Nairobi, erstes Untergeschoss. Von außen ist für jedermann das Schiebetor vor dem Zellentrakt zu sehen. Die Stahltür zu dem düsteren Verließ ist geöffnet, einige der Stahlbetonwände sind eingerissen. Hier hat jemand in letzter Minute versucht, Spuren zu verwischen. Doch sie sind noch da, die zwölf Zellen, in denen das Moi-Regime jahrelang seine politischen Gefangenen einsperrte und folterte.
von Stefan Ehlert
Sie sind 2,3 mal 3,3 Meter groß und 2,30 Meter hoch, die Wände schwarz oder blutrot gestrichen. Es gibt ein Büro, eine Nasszelle, einen Anschluss für den Wasserschlauch. Damit wurde die Zelle unter Wasser gesetzt, wenn sich ein Gefangener auch nach fünf Tagen noch weigerte zu gestehen, was er gestehen sollte. Nackt hockten die Opfer im kalten Wasser. Sie erhielten tagelang keine Nahrung. Manche sagen, sie hätten den eigenen Urin getrunken und ihre Exkremente gegessen. Um sie herum herrschte entweder totale Finsternis oder permanentes Dämmerlicht. Ihre Notdurft verrichteten die Insassen auf dem Zellenboden. Ihr Weinen hörten allenfalls die Mitgefangenen. Manche saßen nur einige Tage ein, andere starben. Ein Zeuge, der das berichtet, hat 90 Tage im Nyayo-Haus verbracht und überlebt.
Am 11. Februar dieses Jahres schlug die Stunde der Überlebenden. Erstmals durften sie den Ort ihres Leidens besichtigen und der Öffentlichkeit erklären, wie politische Folter in Kenia funktionierte. Wie kaum ein anderer Tag markiert dieser 11. Februar die Wende in der kenianischen Politik, sechs Wochen nachdem Daniel arap Moi nach 24 Jahren Amtszeit abgelöst worden war. Das Nyayo-Haus an der Jomo-Kenyatta-Avenue sollte eines der Symbole seiner Herrschaft werden.
Nyayo bedeutet "Fußstapfen" und stand nach Jomo Kenyattas Tod 1978, dem ersten kenianischen Präsidenten nach der Unabhängigkeit 1963, für politische Kontinuität und eine Philosophie der "Liebe, Freundschaft und Einigkeit".
Das wuchtige Hochhaus mit seinen 26 Stockwerken ist bis heute eines der höchsten Gebäude Nairobis - und es wurde tatsächlich ein Symbol: Für Mois Machtmissbrauch, für Menschenrechtsverletzungen und politische Verfolgung im Touristenparadies Kenia. Schon Ende der achtziger Jahre war das Nyayo-Haus zumindest in Nairobi berüchtigt, doch erst jetzt wird öffentlich darüber gesprochen, was dort vor sich ging. Geistliche - katholischen, protestantischen und muslimischen Glaubens - unterzogen die Kellerzellen im März einer Reinigungszeremonie. Gemeinsam mit dem Justizministerium und den National Museums of Kenya planen die Opfer, ein Museum im Nyayo-Haus einzurichten: Fotos der Insassen, Schautafeln und Führungen sollen über die Geschichte des Hauses und das Schicksal der Opfer informieren.
1983 wurde das neue Hauptquartier der Provinzverwaltung fertig gestellt, fünf Jahre nach Mois Amtsantritt und ein Jahr nach dem Putschversuch einiger Luftwaffenoffiziere am 1. August 1982. Wer einen Reisepass braucht, einen Gewerbeschein oder eine Aufenthaltsgenehmigung, der muss den verklinkerten Bau betreten. Die Zellen im Keller wurden vermutlich von Anfang an mit geplant, ebenso wie die obersten Stockwerke, wo die Agenten des Special Branch, die politische Polizei, ihre brutalen Verhöre durchführten und die Opfer blutig prügelten. Die Computer in den schäbigen Zimmern dort oben sind ebenfalls zerstört, womöglich, um Spuren zu beseitigen.
Der heute 40-jährige Wafula Buke verbrachte im November 1987 mehr als zwei Wochen im Nyayo-Haus. Der Studentensprecher wurde nach wenigen Tagen Schonfrist täglich verprügelt und legte schließlich ein Geständnis ab, dass er ein libyscher Spion sei, nur um der Tortur zu entgehen. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und verlor das Recht, sein Studium fortzusetzen. Die Gerichtsakten könnte Buke einsehen, aber Belege dafür, dass er im Nyayo-Haus gefoltert wurde, kann er nicht vorweisen und seine Folterer auch heute noch nicht vor Gericht bringen.
Wo die Akten sind, ob es sie überhaupt noch gibt, wissen die wegen absurder Anschuldigungen verschleppten Opfer nicht. Manchen wurde sogar die Zugehörigkeit zum rassistischen Geheimbund Ku-Klux-Klan unterstellt. "Unsere Stasi-Akten sind noch nicht zugänglich", sagt der 43-jährige Njuguna Mutahi, Vorsitzender des Vereins People Against Torture (PAT) in Anspielung auf die deutsche Geschichte. Er befürchtet, die Akten seien vernichtet worden. Die Opfer haben Schwierigkeiten, Beweise vorzulegen für das, was ihnen widerfuhr. Die widersprüchlichen Angaben darüber, wie viele Menschen von der politischen Polizei im Nyayo-Haus gequält wurden, belegen die problematische Beweislage.
Die Tageszeitung Daily Nation berichtete von 2000 Insassen. Davon seien 500 ums Leben gekommen. PAT hat die Aussagen von 160 Opfern dokumentiert, darunter zahlreiche Parlamentarier. PAT-Chef Mutahi glaubt, insgesamt 300 politische Gefangene hätten im Zeitraum von 1986 bis 1992 im Nyayo-Haus gelitten. Zehn Todesfälle sind belegt, sagt er. Internationaler Druck und die öffentliche Opposition hätten seit Einführung des Mehrparteiensystems 1992 eine Fortführung der Folterpraxis mitten in Nairobis City nicht mehr erlaubt.
Für den Symbolcharakter des Nyayo-Hauses sind die Zahlen kaum von Belang. Bevor Mitte der achtziger Jahre die Studenten rebellierten und der Widerstand gegen Mois Regime wuchs, hatte dem Special Branch noch das Nyati-Haus nebenan genügt. Wohl in jedem Provinz-Hauptquartier gab es eine Folterzelle, doch keines wurde so berüchtigt wie das Nyayo-Haus.
Der ehemalige Dissidentenführer und heutige Bauminister Raila Odinga nennt es "unser Auschwitz". Zweimal wurde der mächtige Luo-Führer mit verbundenen Augen ins Nyayo-Haus gebracht. Er sollte eingeschüchtert werden und wusste, wie alle Insassen Zeit ihres Aufenthalts, nie genau, wo er sich befand. "Dies ist ein inhumaner Ort", sagte er bei einer Besichtigung am 13. Februar, "aber wir wollen keine Rache üben". Außerdem versprach Odinga ebenso wie Justizminister Kiraitu Murungi die Einführung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Doch die arbeitete auch fünf Monate später noch nicht.
Statt dessen hat Murungi ein Komitee ins Leben gerufen, das erst noch prüfen soll, ob eine Versöhnungskommission wirklich nötig ist. Frühestens im September wird darüber entschieden werden. Das bedeutet Zeitgewinn für die Regierung. Denn der Umgang mit der Vergangenheit birgt politischen Sprengstoff. Justizminister Murungi nennt das Nyayo-Haus ein "Mahnmal der Schande" und er weiß: Wie Kenia mit den Opfern von Folter und politischer Verfolgung umgeht, ist ein wichtiger Indikator dafür, ob das Land wirklich demokratischer und ein Rechtstaat wird. Umstritten ist vor allem, ob die geplante Versöhnungskommission nach dem Beispiel Südafrikas arbeiten soll oder nicht.
In Südafrika hatten geständige Folterer in der Regel keine weitere juristische Verfolgung zu befürchten. Damit aber sind viele der kenianischen Opfer nicht einverstanden. "Südafrika war ein Apartheid- Staat", sagt Njuguna Mutahi, "wir aber waren schon unabhängig, und Folter war dem Gesetz nach nicht erlaubt."
Einige der heutigen Regierungsmitglieder waren eng mit dem Moi Regime verbandelt. Dem Assistent Minister Petkay Miriti werfen einzelne Folteropfer sogar vor, an führender Stelle mit der Misshandlung von politischen Gefangenen betraut gewesen zu sein. Die Folterer selbst sind - sofern nicht in Pension - noch immer im Amt. Keiner wurde verurteilt. "Wir wollen keine Rache", sagt auch Njuguna Mutahi. Aber Versöhnung sei nur möglich, wenn die Folterer ihre Taten gestehen und die drastischen Urteile gegen die politischen Gefangenen aufgehoben würden. Sie gelten bis heute als verurteilte Kriminelle.
Ungeklärt ist auch die Frage der Entschädigung. Kommen dafür nur die Folteropfer in Frage? Oder auch die Opfer der künstlich geschürten Stammesfehden, die Zehntausende ihr Land kosteten? Die finanzielle Belastung für die Regierung wäre enorm. "Und welche Verantwortung tragen die westlichen Nationen, die Mois Folterregime jahrzehntelang am Leben erhielten?", fragt Njuguna Mutahi. "Mir würde ein Job als Kompensation schon reichen", sagt der ehemalige Ökonomie-Student Wafula Buke, "und das Recht zu studieren."
Buke ist inzwischen vom Obersten Gerichtshof eine Entschädigung in Höhe von 500.000 Kenia-Shillings zugesprochen worden, umgerechnet etwa 6000 Euro. Das Gericht nannte seine zweite Haftzeit und die Behandlung im Naivasha-Hochsicherheitsgefängnis im Jahr 1995 "tragisch" und "absolut inhuman". Buke wurde dort 49 Tage lang festgehalten und erneut gefoltert.
aus: der überblick 03/2003, Seite 28
AUTOR(EN):
Stefan Ehlert:
Stefan Ehlert ist Radio- und Zeitungsredakteur. Er lebt seit mehr als zwei Jahren in Kenia und arbeitet für verschiedene Tageszeitungen und die ARD-Hörfunkanstalten als freier Afrika-Korrespondent.