Versöhnung durch Verschweigen
16 Jahre hat der Bürgerkrieg in Mosambik gedauert. Seit zehn Jahren gibt es einen Friedensvertrag, aber der Krieg ist immer noch ein heikles Thema. Forschungsergebnisse, die sich auf die Geschichte nach 1962 beziehen, wurden vorsorglich von der Regierungspartei FRELIMO im Giftschrank verschlossen, in den Lehrbüchern für den Schulunterricht wird die Periode ausgeblendet. Daran wird sich auch nach der Reform des Grundschulunterrichts nichts ändern.
von Thomas Veser
Am Anfang war die Einheitspartei, und sie "führte das heldenhafte Volk Mosambiks mit der Waffe in der Faust bis zum Sturz des Kolonialismus". Mit einem doppelten Hoch auf die FRELIMO beginnt die erste Nationalhymne des unabhängigen Mosambik. Seine "geeinten Arbeiter und Bauern" waren darin aufgerufen, das Vaterland im "Kampf gegen die Bourgeoisie in ein Grab des Kapitalismus und der Ausbeutung" zu verwandeln.
Wenn Schüler der vierten Primarschulstufe Geschichte lernen, stützen sich ihre Lehrer nach wie vor auf ein 1985 erschienenes und letztmals 1995 überarbeitetes Buch, auf dessen Rückseite der kämpferische Text der alten Nationalhymne steht. Seit Beilegung des 16-jährigen Bürgerkriegs 1992 spielt man nur noch die Musik der Hymne. Denn nach Einführung des Mehrparteiensystems, das zu Beginn der 1990er Jahre per Verfassungsänderung beschlossen wurde, passt der Text, in dem einzig und alleine die FRELIMO besungen wurde, nicht mehr in den politischen Kontext. Und da die Regierungspartei FRELIMO ganz offiziell den Marxismus-Leninismus zu Grabe getragen hat und die Zeichen auf Marktwirtschaft stehen, wirkt auch der flammende Aufruf zum Kreuzzug gegen den Kapitalismus reichlich deplatziert. So hat das Parlament in Maputo im März 2002 die alte Hino nacional abgeschafft und eine andere Nationalhymne eingeführt.
Der neue Text wird gewiss auch in die vorgesehenen neuen Geschichtsbücher Eingang finden. Gegenwärtig arbeitet das Nationale Institut für die Unterrichtsentwicklung (INDE) an einer Reform des Grundschulunterrichts. Methodik, Lehrmaterial und Lehrerfortbildung sollen erneuert und den heutigen Bedürfnissen angepasst werden. Sieben Verlage in Portugal, Südafrika und Großbritannien haben sich um den Auftrag beworben, gegen Jahresende soll der Zuschlag erteilt werden.
Unterdessen dienen die alten, in manchen Fällen leicht überarbeiteten Lehrbücher für Geschichte, als Unterrichtsmaterial in den annähernd 7700 Grundschulen, die das 19,3 Millionen Einwohner zählende Land am Indischen Ozean offiziell besitzt. Gemäß Erziehungsministerium sind gegenwärtig landesweit 54.000 Grundschullehrer tätig. Da jedoch ihre Löhne für das überleben nicht reichen, gehen viele Pädagogen nebenbei noch einem anderen Broterwerb nach.
In sämtlichen Geschichtsbüchern, die für die einzelnen Klassenstufen der Grundschulen heute zur Verfügung stehen, findet man kaum Angaben zur vorkolonialen Epoche. Weder im Lehrbuch für die vierte noch für die siebte Klasse taucht das Mittelalter und das legendäre Reich Monomatapa auf. Die Portugiesen hatten aus dem Herrschertitel Mwene Matapa (Herr der Ausbeutung) den Namen des Reiches Monomatapa gemacht. Im 15. Jahrhundert hatte König Mutota am mittleren Sambesi ein Handelsreich für Elfenbein und Gold aufgebaut. Sein Reichtum beruhte auf Gold, das die Portugiesen magisch anzog. Auf der Suche nach Edelmetall gründeten diese Ende des 15. Jahrhunderts auf einer kleinen Insel an der Nordküste einen Moçambique genannten Brückenkopf. Später entwickelte er sich zur ersten Hauptstadt des nach der Stadtgründung benannten Landes.
Monomatapa ließ sich durch die nationalistisch geprägte Historiographie nur schwerlich als Gründer eines frühen staatenähnlichen Territorialgebildes vereinnahmen. Denn sein Reich erstreckte sich im südöstlichen Afrika über das Gebiet der heutigen Nationalstaaten Simbabwe, Malawi und Mosambik. Außerdem verloren Monomatapas Nachfolger nach und nach große Teile des Reiches, sodass es im 17. Jahrhundert seine Bedeutung völlig eingebüßt hatte.
Mehr Aufmerksamkeit in den Schulbüchern erhalten lokale Herrscher, die sich seit dem 19. Jahrhundert den portugiesischen Expansionsabsichten in den Weg stellten. Das Mosambikanische Volk leistete gegen den portugiesischen Kolonialismus stets "Widerstand", lautet die Überschrift dieses Kapitels im Geschichtsbuch O meu livro de Historia für die vierte Klasse. Dort führen zwei Kinder, Amina und Samuel, die jungen Leser durch die Zeit und erklären, dass auch deren Dorf und Schule eine eigene Geschichte habe. An einer Stelle interviewen sie eine alte Mosambikanerin, die der jungen Generation über die Lebensverhältnisse vor der Befreiung berichtet.
Auffallend ist in den Geschichtsbüchern der lockere Umgang mit Begriffen wie "Verräter", "Kolonisator" und "Nationalist", die bereits auftraten, als das Land noch gar nicht portugiesische Kolonie war. Schon immer wurden die anderen als die Bösen dargestellt. "Die Verfasser dieser Lehrbücher sehen das offenbar als einen dauerhaften Zustand an; man vermisst in den Darstellungen Hinweise darauf, dass sich solche Prozesse über einen längeren Zeitraum hinziehen", bemerkt der aus Deutschland stammende Historiker Gerd Liesegang, der seit Ende der siebziger Jahre in Mosambik lebt und an der Universität Maputo afrikanische Geschichte lehrt.
In allen Geschichtsbüchern bildet der Befreiungskampf, der 1975 nach einem Jahrzehnt blutiger Zusammenstöße mit den portugiesischen Truppen in die Unabhängigkeit mündete, das Hauptthema. Detailliert wird dargestellt, wie die Freiheitskämpfer mit ihren Führern in den Verstecken lebten und wie sie in einzelnen Gefechten nach und nach die Kontrolle über das Land erreichten. Obgleich offiziell dem Marxismus-Leninismus verpflichtet, greifen die Verfasser der Lehrwerke nur selten auf marxistische Geschichtsbegriffe zurück. Wohl stößt man auf "Frauen an der Arbeitsfront" und hin und wieder wird auch Aldeia - das Mosambikanische, möglichst kirchenfreie Modelldorf, in dem man wohnt und gleichzeitig arbeitet als ideale Form des Zusammenlebens dargestellt, "ansonsten war das Bekenntnis zu den Werken von Marx und Engels doch rein formeller Natur. Man legte es ab, genau wie man in der Kirche das Kreuz schlägt und macht anschließend dann, was man will", meint dazu Gerd Liesegang.
Mit Nachdruck verweisen die Verfasser, nach Liesegangs Darstellung vornehmlich Studenten und Lehrer, auf die Schäden hin, die der Befreiungskampf verursacht hat. Dafür wird den Portugiesen und ihren "Verbündeten aus dem Lager der Apartheid" - womit Südafrika und Südrhodesien unter Premierminister Ian Smith (heute Simbabwe) gemeint sind - die Schuld zugeschoben. Briten und Buren, in deren Gebieten sich traditionellerweise zahlreiche Mosambikaner als Wanderarbeiter aufhielten, haben die Verfasser in der Beurteilung tendenziell über die portugiesischen Kolonialherren gestellt. Letztere hätten die Einheimischen zur Fronarbeit verpflichtet und ihr Brauchtum zerstört, um ihnen eine fremde Kultur und Sprache aufzuzwingen.
Im Lehrbuch für die vierte Klasse bildet die Entlassung Mosambiks in die staatliche Unabhängigkeit 1975 abrupt das Schlusskapitel. Im zweiten Band des Buches für die siebte Klasse thematisieren die Verfasser den zwischen der Volksrepublik Mosambik und der Südafrikanischen Republik 1984 abgeschlossenen Vertrag von Nkomati über Nichtangriff und für gute Nachbarschaft und dessen Erneuerung 1988. "Das Mosambikanische Volk hofft auf die faktische Verwirklichung dieses Vertrages, damit sein Friedenswunsch umgesetzt werden kann", lautet der Schlusssatz. Nach Hinweisen auf den 16-jährigen Bürgerkrieg hält man vergeblich Ausschau. Dieses leidvolle Kapitel wird schlicht ausgeblendet. Kein Wort über die Millionen Toten und Kriegsversehrten, Schweigen über das gewaltige Ausmaß der Zerstörungen, deren Spuren noch heute sichtbar sind.
Ein Jahrzehnt nach dem Friedensschluss ist der Bürgerkrieg noch immer ein heikles Thema, dem man auch im Schulunterricht besser aus dem Weg geht. "Viele Verantwortliche von damals sind heute politisch sehr aktiv. An die Vergangenheit zu erinnern, bedeutet, neue Konflikte heraufzubeschwören", resümiert Narcisso Hofisso, der im INDE an der Entwicklung des Lehrplans mitwirkt. Und daher werde man auch in Zukunft bewusst darauf verzichten, auf einzelne Ereignisse und Details einzugehen. Man stelle sich vor, was geschehen würde, wenn ein Lehrer das Handeln eines RENAMO-Kämpfers als vorbildlich präsentiert und der Sohn später zuhause darüber seinem Vater berichtet, der auf Seiten der FRELIMO steht: "Streit und Spaltung würden unweigerlich in die Familie gebracht", warnt Hofisso.
Die Überwindung dieses Grabens sei Aufgabe des Schulunterrichts. "Wir setzen auf nationale Einheit und Patriotismus", fügt er hinzu. Dass dieses heikle Geschichtskapitel nicht aufgearbeitet werden soll, wurde sogar von den vertragsschließenden Parteien damals verbindlich festgelegt und kann als eine der Voraussetzungen für den Friedensschluss betrachtet werden. Die Bildung einer Truth-and-Reconciliation-Commission nach Vorbild der südafrikanischen Wahrheitskommission stand dabei nie auf der Tagesordnung.
Staatliche Schweigepflicht war in den 1980er Jahren bereits den Zeitgeschichtlern der Universität auferlegt worden. Neuere Geschichte durfte nur bis 1962, dem Gründungsjahr der FRELIMO, erforscht und im ersten Band publiziert werden. "Zwar gab es bereits Druckfahnen des zweiten Bandes, für dessen Forschungsarbeit Sondergenehmigungen eingeholt werden mussten. Er durfte jedoch auf höchste Fügung nie publiziert werden", erinnert sich Liesegang. Und so bleiben als öffentlich zugängliche Darstellungen nur die zwischen 1992 und 2002 angenommenen Abschlussarbeiten von Studenten der Universität Maputo. Darin wurden wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte der Bürgerkriegsjahre aufgearbeitet.
Um so tatkräftiger arbeitet das INDE an der Reform des Unterrichts, der künftig die Sozialwissenschaften mit einbeziehen wird. Geschichte, Geographie und Gemeinschaftskunde, die früher getrennt unterrichtet wurden, sollen jetzt zusammengefasst werden. Zudem soll die Rolle regionaler und internationaler Organisationen stärker im Unterricht verankert werden. Nicht mehr in Portugiesisch, sondern in der jeweilige "Muttersprache" will man die künftigen Schulanfänger unterrichten. Außerdem wird das Fach Englisch angeboten. Als "Muttersprache" wählte man pro Region die dort am häufigsten verwendete Lokalsprache. Wenn diese auch schriftlich fest verankert ist, so die Überlegung, lasse sich der Übergang zur Fremdsprache Portugiesisch leichter bewältigen.
"Das bedeutet für die Lehrer, dass sie flexibler werden müssen und das können wir nur über eine verbesserte Lehrerfortbildung erreichen" , teilt Narcisso Hofisso mit. Bei diesen Bemühungen erhält Maputo seit 1995 Hilfe von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die in zwei Provinzen an der Grundschullehrer-Qualifikation und an der Schulentwicklung mitwirkt. Hauptziel ist die Stärkung der Bildungsstätten, die bei Personal-und Finanzentwicklung eigenständiger auftreten sollen. Nach den Vorgaben der gegenwärtig laufenden Dezentralisierung der Verwaltung treffen künftig von den Eltern gewählte Schulräte die Beschlüsse.
Bis dahin wird noch viel Wasser den Limpopo hinunterfließen: Anfang 2004, so hoffen die Verantwortlichen in Maputo, wird der neue Lehrplan für die sieben Klassenstufen umfassende Grundschule umgesetzt sein; Sekundarstufe und Hochschulsektor sollen folgen. Bis dahin wird wohl jedes Kind den Text der neuen Nationalhymne auswendig singen können. Die FRELIMO wird dort nicht mehr erwähnt, stattdessen strahlt die "Junisonne über der Geschichte" Mosambiks, "wo Millionen starke Arme, wie eine einzige Kraft, jeden Tag das Land Stein für Stein wiederaufbauen"
aus: der überblick 04/2002, Seite 66
AUTOR(EN):
Thomas Veser:
Thomas Veser ist freier Journalist und schreibt für mehrere Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist spezialisiert auf Afrika.