Wo bleiben die Kirchen bei wichtigen Diskussionen? - Ein Kommentar
Die Armen spielen in den Weltreligionen eine wichtige Rolle. Wer spirituelle Erfüllung sucht, kann an ihnen nicht gleichgültig vorbeigehen. Den Christen begegnet in ihnen das Bild des leidenden Gottes. Hindus, Muslime, Sikhs und Buddhisten folgen eigenen Traditionen der sozialen Verantwortung.
von Manfred Kulessa
Für Ökonomen und Banker sind Arme Menschen, die über weniger als einen oder zwei Dollar pro Tag verfügen und deshalb am wirtschaftlichen Geschehen nur marginal beteiligt sind. Auch sie empfinden das als ein Ärgernis, das man beseitigen sollte. Politikern, die sich den Zielen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit im globalen Maßstab verpflichtet wissen, kann es ebenfalls nicht recht sein, wenn ein großer Teil der Menschheit vom wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt ausgeschlossen ist.
Kirchliche Werke, ökonomische Institute und politische Konferenzen befassen sich deshalb intensiv mit den Phänomenen der Armut und mit ihrer Bekämpfung. Wenn auch das Evangelium lehrt, dass uns die Armen immer erhalten bleiben, steckt doch ein gutes Stückchen Hoffnung auf Besserung in solchen Bemühungen.
Die Staatschefs haben sich auf der UN-Milleniumsveranstaltung im letzten Jahr darauf verständigt, die Zahl der Armen in der Welt innerhalb von 15 Jahren zu halbieren. Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm 2015 vom April 2001 dazu ein Orientierungskonzept vorgelegt.
Konferenzen, die sich in gepflegter Umgebung mit dem Schicksal der Armen befassen, wird es immer wieder geben. Wie Umwelt- und Klimakonferenzen können sie sich sogar als nützlich erweisen, jedenfalls nützlicher als Formel 1 - Rennen oder Love Parades. (Man muss sich mal klarmachen, dass ein solches Autorennen, der Gipfel sinnloser Verschwendung, etwa so viel kosten kann wie der Jahresetat des BMZ.)
Als ein Novum wird dagegen registriert, wenn sich eine Industriestiftung mit einer Expertenkonferenz der Strategien zur Armutsbekämpfung annimmt. So geschehen im Juni 2001 auf dem XIII. Malenter Symposium der Dräger-Stiftung in Lübeck. Die Stiftung hatte dazu die Weltbank als Mitveranstalter eingeladen. Möglicherweise wird die Wahl des Themas dadurch verständlicher, dass es ausdrücklich auf die Länder mittleren Einkommens (middle income countries) beschränkt war, also im Wesentlichen die Schwellenländer und die Reformwirtschaften des früheren Ostblocks behandelte.
Die Dräger-Stiftung hat sich seit Jahren durch qualifizierte internationale Tagungen in gutem Stil einen hervorragenden Ruf erworben, früher vor allem im Bereich der Ost-West-Beziehungen. Auch diesmal ist sie ihrem Ansehen gerecht geworden. Es war ein gutes meeting of minds, wenn auch der Umfang einer Plenarsitzung mit siebzig aktiven Teilnehmern und einhundert Beobachtern es anständigerweise keinem möglich macht, mehr als einmal das Wort zu ergreifen. Immerhin lohnte das Zuhören.
Die gängige Linie von Weltbank und Bundesregierung wurden stellvertretend für Präsident und Ministerin von Johannes Linn und Michael Hofmann kompetent dargestellt. Es gab aber auch Raum für kritische Positionen, zum Beispiel die von Saskia Sassen. Als typisches Beispiel für die Erfahrungsberichte der Experten ist hier Nancy Barry von Women's World Banking zu erwähnen, die sehr lebendig über Mikrokreditsysteme zu erzählen wusste. Aus der alten Zeit gab der große Michel Camdessus seinen multilateralen Segen. Richtig spannend wurde es aber erst am zweiten Tag, als verantwortliche Politiker aus Mexiko, Russland und Tschechien aus der Praxis ihrer Länder referierten.
Zusammenfassend kann der Bilanz der "Neuen Zürcher Zeitung" zugestimmt werden, dass die empfohlene Strategie einmal auf gute Verwaltungsführung (good governance) und Bildung, zum anderen auf die Förderung lokaler Ressourcen abstellt. Das entspricht dem gängigen Stand der Diskussion. Dazu kommt dann noch die Frage nach brauchbaren Systemen sozialer Sicherung. Vom Altmeister Wapenhans und anderen wurde zu recht vor dem Glauben an rasche Rezepturen gewarnt.
Was in Lübeck erfreulich deutlich wurde, ist die Auflösung traditioneller dogmatischer Fronten. So schien es so gut wie niemanden zu verwundern, wenn ein amerikanischer Teilnehmer für die Schwellenländer wohlfahrtsstaaatsähnliche Strukturen "nach dem Vorbild Nordwesteuropas" empfahl oder Professor Min Weifang aus China die Überwindung der Armut von der Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnik erwartete. Da zeichnen sich allerdings dann auch schon die neuen Frontstellungen ab.
Interessant war die Zusammensetzung des Kreises der Geladenen, zu denen außer Beamten der internationalen und nationalen Behörden und Fachorganisationen vor allem Wissenschaftler und einige Vertreter von Wirtschaft und Medien gehörten. Die Zivilgesellschaft kam zwar in der Diskussion verschiedentlich vor, ihre NGO-Variante war aber nur marginal vertreten. Die Religionen und ihre Werke waren gar nicht dabei, obwohl doch ihre Orientierung und jahrtausendealte Erfahrung wertvolle Beiträge hätte leisten können, einmal abgesehen von ihrem entwicklungspolitischem Engagement unserer Tage.
Dräger Stiftung, Moislinger Allee 53-55, 23558 Lübeck, www.draegerstiftung.de
aus: der überblick 03/2001, Seite 107
AUTOR(EN):
Manfred Kulessa:
Manfred Kulessa ist einer der Herausgeber des "überblicks". Er hat 1965 den "überblick" gegründet.