Wie Schweizer Hilfswerke zusammenwachsen
In Deutschland gibt es einen Prozess der Integration der evangelischen Entwicklungsarbeit in ein neues Werk, den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED). In der Schweiz hat ein ähnlicher Prozess vor acht Jahren begonnen. Dr. Christoph Stückelberger, Generalsekretär der Schweizer Hilfsorganisation "Brot für alle" gibt Auskunft über das Schweizer Modell.
Gespräch mit Christoph Stuckelberger
Das Interview führte Frank Kürschner-Pelkmann
In Deutschland gibt es einen Prozess der Integration der evangelischen Entwicklungsarbeit in ein neues Werk. Gibt es einen ähnlichen Prozess in der Schweiz?
Es gibt einen Prozess, der schon vor acht Jahren begonnen hat. Wir haben einen gemeinsamen Vorstand gebildet von Brot für alle (BFA) dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der Schweiz (HEKS), der Kooperation Evangelischer Kirchen und Missionen (KEM) und dem Departement Missionaire (DM). Die vier Missions- und Hilfswerke haben ihre Vorstände aufgelöst und einen gemeinsamen Vorstand gebildet. Seit einem Jahr ist zudem ein intensiver Prozess der Restrukturierung der Missionsgesellschaften in der Schweiz im Gang.
Am 1. April 2000 haben die Abgeordnetenversammlungen der erwähnten vier Hilfs- und Missionswerke beschlossen, einen weiteren Prozess des Zusammenwachsens der Werke einzuleiten und dabei insbesondere die Fragen der Mitwirkung der welschen Schweiz und des Verhältnisses von HEKS und Brot für alle näher zu prüfen.
In Deutschland gibt es bisher gewisse Vorbehalte zwischen den Missionskreisen und den entwicklungspolitisch orientierten Gruppen. Ist das in der Schweiz auch der Fall und wie wirkt sich das auf den Prozess der Integration aus?
Das ist auch in der Schweiz der Fall, und deshalb ist dieser Prozess nicht ganz einfach. Aber wir haben immer betont, dass Entwicklung, Mission und weltweite Kirchenpartnerschaft theologisch gesehen eng zusammengehören, auch wenn es vor Ort unterschiedliche Partner und Schwerpunktsetzungen gibt, die andererseits nicht voneinander zu trennen sind. Es gibt auch Unterschiede in den Kulturen dieser Werke. Das hängt damit zusammen, dass die Missionen vor 180 Jahren gegründet wurden, HEKS nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und wir ein Kind der sechziger Jahre sind. Diese Kulturen miteinander zu verbinden, braucht einen gewissen Prozess.
Worin besteht heute der Unterschied zwischen Brot für alle und HEKS?
HEKS wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zur Unterstützung des
Wiederaufbaus in Europa und für die zwischenkirchliche Hilfe in Europa
gegründet. Inzwischen sind Flüchtlingsarbeit, Migrationsarbeit und
Diakonie in der Schweiz als zusätzliche Aufgaben dazugekommen. Brot
für alle wurde 1961 am Beginn des ersten Entwicklungsjahrzehnts, also
praktisch gleichzeitig mit Brot für die Welt gegründet mit dem Fokus
auf Entwicklungsarbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wir sind, weil es
das HEKS schon gab, eine Finanzierungsinstitution, die vier Mandate hat:
1. Geld sammeln für die Entwicklungszusammenarbeit in diesen drei
Kontinenten (es geht also nicht um die Durchführung von Projekten, sondern
die Finanzierung über Partnerorganisationen),
2. die Informations- und Bildungsarbeit in der Schweiz,
3. die entwicklungspolitische Advocacy- und Lobby-Arbeit,
4. die Überprüfung und Qualitätssicherung der Entwicklungszusammenarbeitsprojekte.
Wie finanzieren sich die beiden Hilfswerke und wie entwickelt sich die finanzielle Situation der Werke?
Brot für alle finanziert sich hauptsächlich aus Einzelspenden. Die sind in etwa stabil, allerdings hat die langfristige Entwicklungszusammenarbeit vor allem durch die Konkurrenz von Nothilfesammlungen, die ja in den letzten Jahren stark zugenommen haben, einen etwas schwierigeren Stand. Wir erhalten außerdem Kirchensteuermittel durch einzelne Kirchengemeinden, aber praktisch keine Zuschüsse von Mitgliedskirchen. Weitere Gelder kommen von der Schweizer Regierung, Stiftungen usw.
HEKS finanziert sich auf eine vergleichbare Weise, mit dem Unterschied, dass sie für die Flüchtlingsarbeit weit mehr Bundesmittel bekommen, weil diese Programme bei allen Werken im Wesentlichen durch die Regierung finanziert werden. HEKS erhält außerdem kantonale Kirchensteuermittel.
Haben die Kirchen in der Schweiz Entwicklungsaufgaben an Brot für alle delegiert mit dem Gefühl "Nun müssen wir uns nicht weiter darum kümmern"? Wie engagieren sich die Kirchen für die Arbeit von Brot für alle?
Brot für alle wurde gegründet von den Mitgliedskirchen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. Wir sind ein Werk dieser Kirchen und haben von daher sehr enge Beziehungen. Wir fühlen uns insbesondere von den Kirchgemeinden sehr getragen, denn es sind die Gemeinden, die die Aktion, also die jährliche Informations- und Aktionskampagne, durchführen. Wir fühlen also durchaus ein Mittragen durch die Kirchen, andererseits ist uns wichtig, dass wir auch den nötigen Freiraum haben, und dies gerade im entwicklungspolitischen Bereich, um unsere Aufgabe als Stimme der Benachteiligten im Süden wahrnehmen zu können. So können wir auch Positionen vertreten, die nicht in jedem Fall von allen Kirchen im Einzelnen mitgetragen werden.
Gab es in jüngerer Zeit Konflikte, bei denen sichtbar wurde, dass nicht alle Kirchen und Kirchengemeinden die Position von Brot für alle mittrugen?
Ich möchte voranstellen, dass bei den weitaus meisten Themen dieses Mittragen vorhanden ist, zum Beispiel in der Schuldenfrage, in Menschenrechtsfragen, in Handels- und Wirtschaftsfragen. Zu Konflikten ist es in der Frage der Abrüstung und Waffenausfuhr gekommen, wo wir uns aus Sicht der Südpartner für Abrüstungsmaßnahmen und ein Waffenausfuhrverbot eingesetzt haben, was nicht alle Kirchen im selben Maße mittragen konnten.
In welchem Maße können Sie in der Projekt- und der Bewusstseinsbildungsarbeit mit katholischen Hilfswerken zusammenarbeiten?
In dieser Hinsicht ist das Schweizer Modell international ziemlich einmalig. Seit rund 35 Jahren führen wir die gemeinsame Informations- und Sammelaktion mit dem katholischen Fastenopfer sechs Wochen vor Ostern bis Ostern ökumenisch durch. Das ist unterdessen eine äußerst tragfähige, sehr intensive Partnerschaft geworden. Wir haben nicht denselben Finanztopf, die Sammelergebnisse gehen also in die entsprechenden Werke, aber der gesamte öffentliche Auftritt erfolgt gemeinsam, ebenso entstehen die Informationsmaterialien gemeinsam. Das ist eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit, auch wenn es hier und da Diskussionen gibt, etwa über das Kirchenbild. Es gibt einen aktuellen Konflikt. Die Direktorin des Fastenopfers ist zurückgetreten aus Protest gegen Versuche der katholischen Kirche in der Schweiz, das Fastenopfer auf eine neue Art von Kirchlichkeit zu verpflichten, die sie so nicht mittragen konnte.
Hat diese gemeinsame Bewusstseinsbildungsarbeit auch Auswirkungen auf die Förderpraxis?
Es gibt in allen drei Kontinenten ökumenische Programme, die wir gemeinsam unterstützen. Dies ist leider nicht so stark ausgebaut, wie wir das eigentlich anstreben. Ein Bereich, wo die Zusammenarbeit intensiv ist, ist die gemeinsame Unterstützung von internationalen Kampagnen, beispielsweise der clean clothes-Kampagne und die Kampagne zum Verbot von Landminen.
Welche Rolle haben die Partnerschaften zwischen Kirchengemeinden in der Schweiz und in Übersee in der entwicklungspolitischen Arbeit und Bildungsarbeit in der Schweiz und in den Projektbeziehungen?
Die Unterstützung von Einzelprojekten ist in der Schweiz recht verbreitet. Wir haben einen hohen Prozentsatz an zweckgebundenen Mitteln, die wir von den Kirchengemeinden erhalten. Wir unterstützen das auch, weil es für die Sammeltätigkeit von Vorteil ist, wenn man konkret sein kann. Wir sind andererseits daran interessiert, dass möglichst viele nicht für einen Zweck gebundene Mittel eingehen, um die Mittel so verteilen zu können, wie sie aus der Sicht der Projektpartner benötigt werden.
Daneben gibt es die so genannten Direktpartnerschaften, die uns etwas mehr Mühe bereiten, weil oft an den Werken vorbei Beziehungen und finanzielle Unterstützung etabliert werden, die dann sehr stark personenabhängig sind und oft, wenn der Pfarrer wechselt oder ein Gemeindemitglied wegzieht, in Frage gestellt sind, und weil die Einbettung in ein ganzheitliches Entwicklungskonzept oft fehlt.
Welchen Einfluss haben die Kirchen und kirchlichen Werke auf die entwicklungspolitischen und politischen Debatten und Entscheidungen in der Schweiz?
Man kann von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Gerade Brot für alle und Fastenopfer haben - manchmal zusammen mit anderen entwicklungspolitisch engagierten Werken - wesentliche Kampagnen initiiert und getragen, zum Beispiel in Entschuldungsfragen, Handelsfragen, Abrüstungs- und Friedensfragen. Heute ist auch von den Gemeinden akzeptiert, dass die Beeinflussung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine notwendige Ergänzung der finanziellen Unterstützung von Entwicklungsprojekten ist.
Es freut mich immer wieder zu spüren, dass die Gemeinden dies wirklich mittragen. Wenn wir eine Unterschriftenaktion im Rahmen unserer ökumenischen Kampagne durchführen, dann sind die meist sehr erfolgreich. Wir haben beispielsweise im letzten Jahr eine Postkartenaktion zur Frage des fairen Textilhandels, die clean clothes-Kampagne, durchgeführt. Über 50.000 Menschen haben den Textilunternehmen diese Karte geschickt, um Druck auszuüben. Das hat dazu geführt, dass die großen Textilimportfirmen in der Schweiz jetzt mit uns zusammen einen verbindlichen Kodex unterzeichnet haben. Das zeigt, dass diese Art von Aktivitäten heute sehr unterstützt wird. Was jetzt hinzu kommt ist, dass wir diese entwicklungspolitische Arbeit vermehrt international vernetzen wollen, weil wir sehen, dass dies im Rahmen der Globalisierung für die Wirksamkeit sehr wichtig ist. Hier freuen wir uns immer wieder sehr über die gute Zusammenarbeit mit unseren deutschen Partnerwerken wie Brot für die Welt und Misereor, und wir hoffen, dass sich mit dem neuen Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) eine intensive Zusammenarbeit entwickelt.
aus: der überblick 03/2000, Seite 121