Eine neue Welt von Zulieferer- und Arbeitnehmerketten
Wie einst der US-Unternehmer Ford die Organisation des Kapitalismus prägte, kann heute von eine Walmartisierung der Weltwirtschaft gesprochen werden. Die großen Einzelhandelskonzerne entscheiden, was wir konsumieren und wie wir arbeiten.
von Nelson Lichtenstein
Um zu verstehen, warum Lohnarbeit heutzutage wieder unsicher, unvorhersehbar und unterbezahlt ist, muss man begreifen, welche Form der Kapitalismus im 21. Jahrhundert angenommen hat. Eine globale Welt des Handels und der Arbeit existiert seit Jahrhunderten. Aber die Globalisierung hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal verändert.
Verantwortlich dafür sind vor allem die Königsmacher unter den heutigen Unternehmen: die großen Einzelhandelskonzerne. Sie halten nun die strategischen Höhen besetzt, die in der Ford-Ära von den Produktionsbetrieben so gut verteidigt wurden. Die Schlüsselposition in der globalen Zulieferer-Kette nehmen jetzt die Wal-Marts, Tescos und Carrefours unserer Zeit ein. Sie erschließen die Märkte, legen die Preise fest und bestimmen, wie die Arbeit für den gigantischen Warenstrom, der über ihre Ladentheken fließt, weltweit verteilt wird.
Was einst als "Deindustrialisierung" bezeichnet wurde, hat nicht nur zur Zerstörung eines bestimmten Typus von Industrien und gemeinschaftlichen Organisationen geführt, sondern auch die Macht innerhalb des Weltkapitalismus vom Produktions- auf den Einzelhandelssektor verlagert. Letzterer befehligt heute die Zulieferer-Ketten, welche die Welt umspannen, und steuert sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden die Arbeitskraft einer Arbeiterschicht, deren Arbeitsbedingungen sich kaum von denen unterscheiden, die einmal die fürchterlichen, frühen Phasen des kapitalistischen Wachstums kennzeichneten.
Mehr als hundert Jahre lang, etwa von 1880 bis 1980, standen die herstellenden Unternehmen im Zentrum der weltweiten Verflechtung von Produktion und Distribution. In den Vereinigten Staaten sagte der Staat den marktbeherrschenden Großunternehmen gelegentlich den Kampf an, aber zumeist bestimmten die Konzerne der Massenproduktion ihre Preisstruktur selbst, um so die ununterbrochene Produktion zu gewährleisten.
General Motors forderte im 20. Jahrhundert einen 20-prozentigen Steuerabzug für seine Investitionen und erhielt ihn zumeist. U.S. Steel, der größte integrierte Stahlkonzern der USA von J. P. Morgan 1901 vor allem deshalb geschaffen, um die Preise dieser Grundindustrie im Land zu schützen , setzte ein ausgeklügeltes System von Frachtzuschlägen ein, damit es den Wert seiner kapitalintensiven Hütten, Walzwerke und Minen erhalten konnte. Sogar die Hersteller von Nahrungsmitteln und leichten Konsumgütern wie Hartz Mountain, Gillette, Procter&Gamble, 3M, Hershey, Kraft und Coca Cola führten sich auf wie die Herren, wenn sie die Regale der regionalen Lebensmittelgeschäfte und Drogerieketten auffüllten, die ihre Waren feilboten.
Im Zentrum der weltweiten Zulieferer-Ketten stehen heutzutage jedoch die Einzelhandelskonzerne. Sogar den Ausdruck "Zulieferer-Kette" (Supply Chain) gab es vor 20 Jahren noch nicht. Hersteller hatten "Vertriebskanäle", Großhändler operierten in "Absatzgebieten", Einzelhändler verfügten über ein Netz von Gelegenheitsarbeitern und Lieferanten. Wissenschaftler wie der Soziologe Immanuel Wallerstein entwickelten den Begriff "Warenkette" als Teil eines "Weltsystems"; andere verwendeten den Ausdruck "Warenkanäle", um zu beschreiben, welchen Weg zum Beispiel Kleidung von den asiatischen und zentralamerikanischen Lieferanten zu den nordamerikanischen Einzelhändlern nahm. Aber im 21. Jahrhundert ist die "Zulieferer-Kette" zum beliebten Ausdruck geworden: Sie lässt nicht nur die enge "Verkettung" von Produzent und Händler anklingen, sondern vermittelt auch einen Eindruck von der Herrschaft und Unterwerfung, die damit einhergehen.
Heute wird ein Großteil der globalen Wirtschaft über die Zulieferer-Ketten angetrieben, deren Nervenzentren sich in Orten wie Bentonville, Arkansas, befinden, wo Wal-Mart seinen Unternehmenssitz hat oder in Minnneapolis (Target), Troy in Michigan (K-Mart), Paris (Carrefour) und Stockholm (Ikea). Ziel dieser Mega-Einzelhandelskonzerne ist es, nur die Produkte zu beschaffen, die von den Konsumenten auch tatsächlich gekauft werden keine, die von den Produzenten leicht und kostengünstig verschifft werden könnten.
Wie Fords erstes Fließband, das schnell viele traditionelle Fertigkeiten und Herstellungsprozesse der Metallindustrie veralten ließ, haben auch die Innovationen der Zulieferer-Kette die Beziehung zwischen Produzent und Großhändler verändert. Die großen Einzelhandelskonzerne benutzen zahlreiche neue Informationstechnologien, um Verkaufsdaten zu gewinnen, sie elektronisch weiterzuleiten und praktisch sofort Aufträge zur Wiederbeschaffung zu vergeben.
Wenn Wal-Mart eine Tube Zahnpasta in Memphis verkauft, wird diese Information direkt nach Bentonville durchgegeben, dann weiter zum Zentralcomputer im Hauptquartier von Procter&Gamble in Cincinnati, das sie sofort zu einer Offshore-Zahnpastafabrik, etwa in China, schickt, die ihren Produktionsplan entsprechend anpasst.
Der ehrwürdige Hersteller von Drogeriewaren aus Ohio nutzte lange seine Marktmacht und seine raffinierte Marktforschung über die Kaufgewohnheiten von Konsumenten, um sich bei traditionellen Einzelhändlern einen großen Regalanteil zu sichern. Viele Drogerie- und Lebensmittelketten hielten Procter&Gamble für einen anmaßenden Tyrannen. Aber Wal-Mart stellte diese Machtverhältnisse auf den Kopf. Sein ausgeklügeltes Datengewinnungssystem ließ Wal-Mart mehr über die Käufer von Procter&Gamble-Produkten erfahren, als der Hersteller selbst wusste, was unter anderem dazu führte, dass Procter&Gamble in den späten 1980er Jahren ein Verkaufsbüro mit 200 Mitarbeitern nach Bentonville zu Wal-Mart verlagerte.
Wal-Mart ist heute die größte Firma der Welt. Sie hat fast zwei Millionen Mitarbeiter und erzielt einen Ertrag von 350 Milliarden US-Dollar. Wal-Mart ist nicht nur ein großer Einzelhandelskonzern, sondern de facto auch ein gigantischer Produzent. Der Konzern erforscht das Konsumentenverhalten mit akribischer Sorgfalt, so dass die Wiederbeschaffung der Waren unmittelbar nach dem Verkauf beginnen kann. Das bedeutet just in time-Lieferungen für Einzelhändler, also Lean Retailing. Die Hersteller "stoßen" (push) ihre Waren nicht länger auf den Markt in die Lager und Regale der Einzelhändler, sondern die großen Einzelhandelskonzerne mit Wal-Mart an der Spitze "ziehen" (pull) die Produkte aus ihrem weit gesponnenen Netz von Anbietern, die selbst stets auf Lager haben oder sofort produzieren müssen, was diese verlangen.
Um im Bild zu bleiben, könnte man auch sagen, dass der ständige Strom von Containerschiffen, der sich zwischen Südchina und Long Beach, dem Hafengebiet von Los Angeles dem zweitgrößten in den USA bewegt, jährlich rund eine halbe Million Container (von 40 Foot = um die 67 Kubikmeter) transportiert, über den Pazifik "gezogen" und nicht etwa von den chinesischen Produzenten "geschoben" wird.
Mehr noch: Da die Lagerhaltung zurückgefahren wurde, erfordert die Pull-Produktion ein hohes Maß an Geschwindigkeit, Vorhersehbarkeit und Genauigkeit bei der Warenauslieferung. Sowohl kalkulierbare als auch unerwartete Veränderungen im Kaufverhalten müssen von Liefersystemen aufgefangen werden, die die Waren genau zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung stellen. Supply Chain Management, das neue Schlagwort der business schools, ist die "Wissenschaft", dies auf die kostengünstigste und effizienteste Weise zu organisieren.
Wie nun funktioniert dieses System für die beiden großen und schnell wachsenden Gruppen von Arbeitskräften, die dafür sorgen, dass das globale Versorgungssystem auch funktioniert. Da sind zum einen die zumeist weiblichen Arbeitskräfte in den Exportregionen Chinas, Zentralamerikas und Südasiens, die zum neuen Proletariat der Hersteller beziehungsweise Anbieter wie das im Sprachgebrauch der Zulieferer-Kette heißt geworden sind, die diesen riesigen Warenfluss in die Millionen Einzelhandelsregale Nordamerikas und Europas schicken.
Die zweite Gruppe, wiederum überwiegend weiblich, besteht aus den Verkäuferinnen und Kassiererinnen in den großen Discount-Märkten, die den Einzelhandelssektor mittlerweile in fast allen westlichen Ländern dominieren. In beiden Fällen, an beiden Enden der Versorgungskette, ist die Lohnarbeit prekär geworden: schlecht bezahlt, hochgradig abhängig, kaum gewerkschaftlich organisiert und selten sozial abgesichert.
Die Küstenprovinz Guangdong in Südchina ist eine krude Unternehmensmaschine; sie stellt die Verbindung zwischen dem riesigen neuen Proletariat und den amerikanischen beziehungsweise europäischen Einzelhandelskonzernen her, die Tag für Tag Milliarden in China produzierter Güter in die Regale ihrer Discount-Märkte stellen. Mit mehr als 40 Millionen Wanderarbeitern, 13.000 kleinen und großen Textilfabriken und neuen Städten wie Shenzhen, das sich in nur 25 Jahren zu einer Sieben-Millionen-Stadt entwickelt hat, kann sich Guangdong derzeit mit Recht die "Werkstatt der Welt" nennen. Sie hat die Nachfolge von Manchester im 19. und Detroit im 20. Jahrhundert angetreten.
Daran musste ich denken, als wir mit dem Taxi durch Dongguan fuhren, eine sandige, von Smog eingehüllte und immer weiter wuchernde Siedlung am Nordufer des Perlflusses zwischen Guangzhou (dem alten Kanton) und den Wolkenkratzern von Shenzhen. An einem späten Sonntagnachmittag fuhren wir länger als eine Stunde über breite, stark befahrene Straßen, die von Läden, Werkstätten, vielen kleinen und wenigen großen Fabriken gesäumt wurde, in denen geschäftiges Treiben herrschte. So müssen die Städte des alten amerikanischen Rust Belt einst ausgesehen, gerochen und pulsiert haben.
Die chinesische Regierung in Peking wählte Shenzhen 1979 als Sonderwirtschaftszone aus, weil es nah an Hong Kong und Macao und weit genug entfernt von der chinesischen Hauptstadt liegt. Einige Jahre später wurde das gesamte Delta des Perlflusses zu einem mehr oder weniger komplett freien Markt mit niedrigen Körperschaftssteuern, nur wenigen Umwelt- und Bebauungsvorschriften und besonders wichtig dem Recht, Kapital und Gewinne vollkommen ungehindert aus der und in die Region zu transferieren. Das Ergebnis war sensationell. Das Bruttoinlandsprodukt in der Perlfluss-Region stieg von acht Milliarden im Jahr 1980 auf 113 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002. Die Einwohnerzahl von Shenzhen wuchs um das 20-fache. Die gesamte Provinz Guangdong, zu der der größte Teil des Perlfluss-Deltas gehört, produziert ein Drittel aller chinesischen Exportgüter. Und zehn Prozent davon landen in den Regalen von Wal-Mart.
Obwohl Wal-Mart keine eigenen Fabriken in der Region besitzt, ist seine Präsenz unübersehbar. Seine Welteinkaufszentrale befindet sich heute in Shenzhen, die Firma besitzt bereits elf große Geschäfte in der Provinz und wird von allen, die irgendetwas mit dem Außenhandel zu tun haben, respektiert ja gefürchtet. Deshalb gewähren die Mitarbeiter des Yantian International Container Terminals in Shenzhen, heute der viertgrößte Hafen der Welt, den für Wal-Mart bestimmten Frachten höchste Priorität. "Wal-Mart ist der König", erklärte uns ein Hafenbeamter. Und die Geschäftsführer der großen Nike-Yue-Fabrik in Dongguan verweisen stolz darauf, dass sie einen Auftrag aus den Vereinigten Staaten in nur zwei Monaten fertig ausführen könnten. Das Beladen der Containerschiffe dauert nur halb so lange wie in Los Angeles.
Die Arbeitskräfte in Guangdong sind ebenso wie die überwältigende Mehrheit in anderen Küstenregionen Wanderarbeiter, die aus Dörfern im Inland stammen. Die Männer arbeiten auf dem Bau und die Frauen sind im Produktions- und Dienstleistungssektor für den Export beschäftigt. Die Löhne in den Fabriken sind niedrig, aber weit höher als in der Landwirtschaft, und da wegen des Exportbooms bei Spielzeug, Textilien, Schuhen und Elektrogeräten ein ständiger Arbeitskräftemangel herrscht, steigen sie relativ schnell.
Doch ebenso wie in Südafrika zur Zeit der Apartheid und bei vielen Beschäftigungsverhältnissen mexikanischer Arbeiter in den USA sind diese Millionen Migranten im Grunde staatenlos. Das chinesische Gesetz bindet die Bürgerrechte an den Geburtsort, deshalb kümmern sich die lokalen Behörden in den überfüllten Küstenregionen kaum um die Bedürfnisse der Wanderarbeiter. Die Migranten arbeiten und wohnen dort nur mit Einwilligung ihrer Arbeitgeber, die oft ihre Personalausweise einbehalten, bis der "Arbeitsvertrag" erfüllt ist. Viele Unternehmen haben große Wohnheime errichtet, in denen zum Teil acht bis zwölf Arbeiter pro Raum untergebracht sind und das Wohnrecht von der Beschäftigung in der Fabrik nebenan abhängt. Arbeiterinnen, die schwanger sind und/oder auf die Straße gesetzt werden, haben praktisch keine andere Wahl, als in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Das Heiraten ist schwierig, weil es nur sehr wenige erschwingliche Wohnmöglichkeiten für Paare gibt, die in der Produktion arbeiten.
Die Tätigkeit im chinesischen Exportsektor wird schlecht bezahlt und ist extrem unsicher. Außerdem wird sie immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochen. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen haben die Produktionsfabriken meist nur eine bescheidene Größe, sind unterfinanziert und müssen auf einem Markt agieren, auf dem ein extremer Wettbewerb herrscht. Wenn die Einkaufszentrale von Wal-Mart in Shenzhen einen großen Produktionsauftrag ausschreibt, reißen sich die chinesischen Unternehmer regelrecht darum. Selbst ohne Wal-Marts berüchtigte Preisdrückerei sind die Chinesen bereit, beim ersten Auftrag von Wal-Mart einen Verlust hinzunehmen in der Hoffnung, dass sie ihre Festkosten auf lange Sicht wieder hereinbekommen können.
Doch angesichts von Wal-Marts enormem Appetit und seiner Neigung zu großen Lieferanten müssen die chinesischen Anbieter selbst Unteraufträge vergeben. Die Subunternehmer suchen sich dann ihre eigenen Arbeitskräfte. Wie in der New Yorker Textilindustrie an der Lower East Side zu Beginn des 20. Jahrhunderts kann niemand das komplexe Netzwerk von Auftraggebern, Subunternehmern und Werkstätten im Familienbetrieb tatsächlich kontrollieren, vor allem dann nicht, wenn es sich bei den Kontrolleuren nicht etwa um den Staat, sondern um eine private Firma handelt. "Die Fabrikbesitzer glauben nicht, dass sie ein Gesetz übertreten haben, weil sie das Gesetz nicht kennen", sagt Liu Kai-Ming vom Institute for Contemporary Observation (ICO) einer nichtstaatlichen Organisation mit Sitz in Shenzhen, die sich für die Durchsetzung von internationalen Arbeitsstandards in China einsetzt. "Neunzig Prozent der Subunternehmer und Lieferanten von Wal-Mart verstoßen gegen den Verhaltenskodex, den Wal-Mart selbst aufgestellt hat", fügt er hinzu.
Zu diesem Druck bei Produktion und Preisgestaltung trägt auch die Infrastruktur in der Telekommunikation bei. Die sofortige Verbindung zwischen den Hauptquartieren von Wal-Mart in Bentonville und der Provinz Guangdong erzeugt einen ständigen Druck auf die chinesischen Anbieter, die Produktions- und Liefertermine einzuhalten. Vor dem Siegeszug des Strichcodes, des Containers und der Email-Verbindung über Satellit konnte die Produktion nur dann just in time stattfinden, wenn der Lieferant sich in der Nähe des Groß-oder Einzelhändlers befand. Anders ausgedrückt: Lieferanten in Übersee mussten auf die nächste Saison warten, wenn sie die Produktion von in Nordamerika stark nachgefragten Artikeln steigern wollten. Ohne die sofortige Warenbestandsinformation, die heute data mining genannt wird, dauerte es Wochen oder sogar Monate, bis ein Einzelhändler wusste, wie, an wen und zu welchem Preis sich die Produkte tatsächlich verkauft hatten.
Heute dagegen kann Wal-Mart genau vorhersagen, welche Produkte es braucht, weil es den Lagerbestand mit den Verkaufsdaten vergleicht und augenblicklich nachbestellt. Von seinen Herstellern erwartet es dieselbe Flexibilität. Daher ist es in vielen chinesischen Fabriken wie in zahlreichen anderen Produktionsstätten auf der ganzen Welt selbstverständlich, dass die Produktion entsprechend der Nachfrage angekurbelt oder eingestellt wird. Die Folge davon sind Zeiten mit zahlreichen Überstunden und einer Sieben-Tage-Woche einerseits und kurzfristigen Entlassungen und unbezahltem Urlaub andererseits.
Was bedeutet Produktion in einem Einzelhandelskonzern, was ist typisch für die Arbeit im Einzelhandelssektor, in dem in den Vereinigten Staaten mehr Menschen als in jedem anderen arbeiten? In einer Fabrik ist es leicht, den Ausstoß an Autos, Konserven oder Geräten zu zählen. Wenn jemand bei der Arbeit trödelt, sinkt die produzierte Stückzahl. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten die Vorarbeiter bei Ford Hurry up! in einem Dutzend Sprachen schreien. Die dortigen Geschäftsführer wussten, wie viele Wagen pro Stunde gebaut und wie viele Arbeiter dazu benötigt wurden. Bei Wal-Mart jedoch gleicht das Verkaufsvolumen einem Fluss, dessen Verlauf zwar graphisch dargestellt, vermessen und vorhergesagt werden kann, den die einzelnen Marktleiter aber kaum kontrollieren können. Flut und Ebbe des Kundenverkehrs hängen von vielen Ursachen ab. Ein ungewöhnlich warmer Wintertag kann eine Welle von Ladenbesuchern erzeugen, die sich in das Geschäft drängen, den Fußboden schmutzig machen und wohlgeordnete Regale in ein Chaos verwandeln.
Der Einzelhandel ist daher sowohl extrem arbeitsintensiv als auch unvorhersehbar. Preis und Umfang der Arbeit zu deckeln, die 65 Prozent aller kontrollierbaren Kosten verursacht, ist die einfachste Art, die Gewinnschwelle zu senken. "Wir brauchen billige Hilfskräfte, sonst können wir keine billigen Waren verkaufen", schrieb Frank W. Woolworth, der Gründer von Woolworth, 1892 an seine Geschäftsführer, als seine Billigladenkette erst aus wenigen Geschäften bestand. "Wenn eine Angestellte so gut wird, dass sie anderswo mehr bezahlt bekommt, lassen Sie sie gehen. Wir können es uns nicht leisten, gute Löhne zu zahlen und Waren billig zu verkaufen. Unsere Angestellten sollten das wissen." Auch Sam Walton, der Gründer von Wal-Mart, wusste das. In seinen Memoiren schrieb er: "Wie man es im Einzelhandel auch dreht und wendet die Löhne erzeugen den größten Teil der Kosten, und die Kosten müssen so gering wie möglich gehalten werden, damit die Gewinnmargen bestehen bleiben. Das galt damals, und es gilt noch immer." Walton bezeichnete sich selbst als "geizigen" Arbeitgeber. Als Charlie Baum, der Leiter von Waltons ersten Läden, im Jahr 1955 seinen "Mädchen" 25 Cent mehr pro Stunde gab, hatte er sofort Sam am Telefon: "Charlie, wir gewähren keine Lohnerhöhungen von 25 Cent pro Stunde. Wir geben ihnen fünf Cent mehr."
In den folgenden Jahren legten Walton und seine Nachfolger sehr viel Geschick und Ausdauer an den Tag, um praktisch alle gesetzlichen Vorschriften, mit denen Preis und Qualität der Beschäftigung bei Wal-Mart reguliert werden sollten, zu verhindern, einzudämmen oder zumindest zu verwässern. Einige davon gingen noch auf die "progressive Ära" (1890-1920) zurück. Es scheint fast so, als ob Wal-Marts Unternehmens-DNA, sein gesamtes Management-Ethos und sein materielles Belohnungssystem für eine Welt geschaffen wurde, die allergisch auf die gängigsten Reformen und Gesetze in der Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts reagieren, wie zum Beispiel den Wagner Act von 1935. (Dieses nach dem Senator Robert Wagner benannte Gesetz räumte den Arbeitern das Recht ein, Gewerkschaften zu bilden und kollektiv Tarifverhandlungen zu führen; die Red.). Eingeführt wurden ferner die Entschädigung bei Betriebsunfällen, die Versicherung bei Arbeitslosigkeit, die Bezahlung von Überstunden und die Gleichbehandlung von Rasse, Geschlecht, Alter, Familienstand und Behinderung.
Die Verantwortung für das Funktionieren des gesamten Systems tragen die ungefähr 4000 Marktleiter von Wal-Mart. Der Ausdruck "Manager" trifft auf sie kaum noch zu, denn die hochgradige Integration der Zulieferer-Kette hat die Marktleiter bei Wal-Mart eines großen Teils ihrer Verfügungsgewalt beraubt, die früher für diese Tätigkeit charakteristisch war. Von den erhabenen Höhen des Hauptsitzes in Bentonville aus scheinen Tausende von fest angestellten Marktleitern mehr und mehr zu einem Regiment von Fußsoldaten zu werden, denen Unabhängigkeit und Unternehmergeist eher schadet als nützt. Damit bewegt sich Wal-Marts Unternehmensführung ganz im Rahmen der zurzeit gängigen amerikanischen Management-Praktiken.
Seit den Tagen von Frederick W. Taylor und Alfred Sloan mit ihrer Spezialisierung und Fragmentierung der Arbeit am Anfang des 20. Jahrhunderts haben Firmen nach einer Organisationsstruktur gesucht, die den Entscheidungen treffenden "Generalstab" mit etwas verbindet, das einer militärischen Organisation im Feld ähnelt. In den 1980er Jahren experimentierten einige US-amerikanische Unternehmen mit einem gewissen Maß an Dezentralisierung, dem Abbau von Hierarchien und der Auslagerung von Einzelbereichen, aber die erfolgreichen Ketten im Einzelhandel, in der Gastronomie und im übrigen Dienstleistungssektor haben diese organisatorische Flexibilität kaum ausprobiert.
Dieselbe Informationstechnologie, die es Wal-Mart ermöglicht, den globalen Strom von Seife und Suppe zu verfolgen, kann auch eine Million Arbeitsanweisungen an Tausenden weit voneinander entfernt liegenden Arbeitsplätzen exakt und kostengünstig kontrollieren. Firmen wie Wal-Mart, McDonalds und Jiffy Lube haben Erfolg, weil sie fast wie Amöben eine gründlich geprüfte und standardisierte Verkaufseinheit endlos reproduzieren. Betriebswirtschaftler nennen solche Firmen Replicator Organizations, weil sie ausschließlich auf Uniformität, Wachstum und Austauschbarkeit sowohl des Produkts als auch des Personals ausgerichtet sind.
Für die Marktleiter hat Wal-Mart eine " elektronische Leine" angefertigt, die es den Mitarbeitern in Bentonville und anderswo ermöglicht, Hunderte von Aktivitäten in jedem Geschäft zu beobachten: Wie viele Stunden haben die Angestellten in der Haushaltswarenabteilung gearbeitet? Haben die stellvertretenden Marktleiter alle Leistungsbewertungsbögen ausgefüllt? Wie hoch ist der durchschnittliche Umsatz von Kassiererinnen, die diese Tätigkeit kürzer als ein Jahr ausüben? Die Marktleiter von Wal-Mart haben heute die Rolle der Vorarbeiter in den Fabriken übernommen. Sie sind der "Mann in der Mitte", der von oben Druck bekommt, damit er die Anforderungen des Top-Managements an Produktion und Kosteneinsparung erfüllt, und von unten von scheinbar unzuverlässigen Arbeiterkräften schikaniert wird, deren Beschäftigung im Unternehmen eine ausgefeilte Kombination von Verführung, Disziplin und Geschicklichkeit erfordert.
Da alle Marktleiter bei Wal-Mart mit einem knappen Personal-Budget auskommen müssen, setzen sie neben kleinen Beförderungen die Arbeitszeiten als wichtigstes Mittel ein, um die Disziplin aufrechtzuerhalten und die Effizienz zu fördern. Regelmäßig eine Tagesschicht zugewiesen zu bekommen ist etwas, nach dem alle Wal-Mart-Mitarbeiter streben. Dasselbe gilt für eine "Vollzeit-Tätigkeit", die Wal-Mart als 34 Stunden pro Woche definiert. Erst sie berechtigt die Angestellten, eine firmeninterne Krankenversicherung zu erwerben und an verschiedenen Bonus- und Gewinnbeteiligungsprogrammen teilzunehmen. Wenn ein Marktleiter diese irdischen Wünsche erfüllt, kann er mit Loyalität und vollem Einsatz rechnen.
Alleinerziehende Mütter und Personen, die Angehörige pflegen, sind darauf angewiesen, einer der begehrten Schichten zugewiesen zu werden, umso mehr, als Wal-Mart und der Rest des Service-Sektors in den USA 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche geöffnet haben. Und wenn zwei oder drei Mitglieder einer Familie im selben Wal-Mart oder einem weiteren in der Nähe Anstellung finden, steigt das Haushaltseinkommen entsprechend, auch wenn die Löhne und Sachleistungen mager bleiben. Diese Zusammenarbeit der verschiedenen Generationen mit ihrer Kombination der einzelnen Einkommen bedeutet eine Rückkehr zu den Überlebensstrategien der Familien im 19. und frühen 20. Jahrhundert, als die Kinder in den Textil- und Konservenfabriken, Kohlebergwerken und Großfarmen der Südstaaten mitarbeiten mussten, in denen ihre Eltern eine Anstellung gefunden hatten, und so die Miete bezahlt und die Vorratskammer aufgefüllt werden konnten.
Einer Minderheit kann Wal-Mart sicherlich eine komfortable Nische bieten, aber die für die meisten "Mitarbeiter" unangenehmen Schichten, frustrierten Erwartungen und Konflikte mit dem Marktleiter sind ein Grund, innerhalb von zwei bis drei Jahren zu kündigen. Bei Wal-Mart gibt es deshalb eine ständige Fluktuation des Personals, die im Durchschnitt 40 bis 50 Prozent im Jahr beträgt und in den letzten Jahren bei den neu Eingestellten sogar noch weit höher lag. Diese Beschäftigungsstruktur, die den gesamten Einzelhandels- und Dienstleistungssektor kennzeichnet, ist heute für Millionen Menschen eine neue Normalität, aber auch ein radikaler Bruch mit den Management-Praktiken und der staatlichen Politik, die im längsten Teil des 20. Jahrhunderts die Norm oder zumindest das Ideal waren.
Als die großen Massenproduktionsstätten und Fließbänder vor hundert Jahren gebaut wurden, galt ein häufiger Belegschaftswechsel als Einfallstor für Ineffizienz und Unruhe unter den Angestellten. "So wie sich Treibsand nicht mit der Hand zu einem Ball formen lässt, so wird es auch schwierig bleiben, die sich ständig verändernde Masse von Angestellten in den Griff zu bekommen und sie in eine homogene, intelligente und willige Gesamtheit zu verwandeln", schrieb ein Personalleiter im Jahr 1916. Der Erste Weltkrieg und die anschließende Gründung radikaler, revolutionärer Gewerkschaften schienen diese Ansicht zu bestätigen. Große Fluktuation bei der Belegschaft war wirtschaftlich ineffizient und sozial gefährlich. Ein ganzer Berufsstand, das Personal-Management, und eine ganze Unternehmensphilosophie, der Welfare Capitalism, wurden ins Leben gerufen, um die Bindung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu fördern. In den 1920er Jahren investierten "progressive" Firmen wie General Electric, Metropolitan Life und National Cash Register große Summen in etwas, das später den Namen "Mitarbeiterbeziehungen" erhielt.
Die Große Depression zeigte, dass Firmen dies nicht allein leisten konnten. Der Social Security Act von 1935 ist in den Vereinigten Staaten vor allem wegen der Einführung eines Rentensystems in Erinnerung geblieben, aber das Gesetz sollte auch die Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitseinkommen stabilisieren: Es führte eine landesweite Arbeitslosenversicherung und eine Körperschaftssteuer für Unternehmen ein, die Manager dazu veranlassen sollte, für eine dauerhafte Beschäftigung zu sorgen und kurzfristige Entlassungen zu vermeiden. Damals schien die konjunkturbedingte Beschäftigung in der Produktion das entscheidende Problem zu sein: Der Einzelhandel mit seinen überwiegend weiblichen Teilzeitbeschäftigten wurde vom Gesetz nicht erfasst und blieb davon unberührt. Heute ist der Einzelhandel mit einer Belegschaft, die größer als die in der Produktion ist, der weitaus wichtigere Wirtschaftszweig. In den letzten fünfzig Jahren sind die Umsatzraten im Einzelhandelssektor ständig gestiegen, vor allem durch den Niedergang der traditionellen Warenhäuser und den Aufstieg der Discounter- Ketten. Nur in der Gastronomie, im Baubereich und im Unterhaltungssektor ist die Fluktuation bei den Beschäftigten höher. Wenn Wal-Mart und die anderen großen Einzelhandelskonzerne die Zahl ihrer Angestellten reduzieren wollen, brauchen sie nicht mehr zu tun, als eine Zeit lang weniger Neueinstellungen vorzunehmen und auf die normale Fluktuation zu warten. Eine weitere Möglichkeit bietet die Kürzung der Arbeitszeiten. Das führt sofort zu einer Reduktion der Personalkosten und einer Welle scheinbar freiwilliger Kündigungen.
Die Arbeitskultur bei Wal-Mart steht konträr zu allem, was die Arbeitsgesetzgebung im 20. Jahrhundert etabliert hat. Die 40-Stunden-Woche, die in den 1930er Jahren eingeführt und in den 1950er Jahren zur Norm wurde, gibt es nicht mehr. Die stundenweise Beschäftigten in fast allen Einzelhandelsmärkten haben eine unberechenbare Arbeitswoche, die sich mit den Jahreszeiten ändert. Nimmt man die Unternehmenskulturen dazu, die lange Arbeitstage preisen, wie es in der High-Tech-Branche, im Finanzsektor, unter Juristen und im Gesundheitswesen üblich ist, dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie der Acht-Stunden-Tag und die 40-Stunden-Woche für viele Millionen Amerikaner mehr und mehr zur Farce wird. Bei Wal-Mart arbeiten die stellvertretenden Marktleiter regelmäßig 60 Stunden pro Woche.
An beiden Enden der Zulieferer-Kette im Einzelhandel haben neue Technologien, neue Organisationsstrukturen und eine neue Arbeitskultur zu zahlreichen prekären Arbeitsverhältnissen geführt. Wir können aber die Politik, auf der diese globale Zulieferer-Kette beruht, nicht ignorieren: weder hinsichtlich der neuen Arbeiterklasse, die sie hervorbringt, noch hinsichtlich ihrer möglichen Transformation. In China hat der Abbau des Maoismus einer Wiedergeburt des puren Wirtschaftsliberalismus den Weg bereitet unter den Bedingungen eines autoritären Staates, der dem riesigen, neu entstandenen Proletariat Stimme und visionäre Kraft geraubt hat. In den Vereinigten Staaten und einem großen Teil Europas hat die Aushöhlung der Ordnungsstrukturen und Arbeiterinstitutionen, die lange mit der Sozialdemokratie in der Mitte des 20. Jahrhunderts verbunden wurden, dem übermäßigen Wachstum des Einzelhandels Tür und Tor geöffnet, der von einem riesigen Pool billiger Gelegenheitsarbeiter abhängig ist. Aber auch Zulieferer- Ketten können ebenso wie Arbeiterketten sowohl geschmiedet als auch zerbrochen werden. Unsere Aufgabe ist es, die geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie auf einer menschlichen und demokratischen Grundlage wiedererschaffen können.
aus: der überblick 03/2007, Seite 20
AUTOR(EN):
Nelson Lichtenstein
Nelson Lichtenstein ist Professor für Geschichte an der "University of California", Santa Barbara, und
ist dort Direktor des "Center for the Study of Work, Labor and Democracy".
Er ist der Herausgeber des Buches: "Wal-Mart: The Face of Twenty-First Century Capitalism",
The New Press, New York 2006.