Viele US-Amerikaner pflegen gegenüber Latinos eine eigenartige Hassliebe
Zuwanderer aus Mexiko bilden im Süden der USA die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Weiße Amerikaner aus der Mittelschicht haben zu diesen Latinos ein sehr gespaltenes Verhältnis. Sie begegnen ihnen mit Misstrauen, möchten aber auf ihre billige Arbeitskraft nicht verzichten. Und sie beklagen die schlechten Englischkenntnisse der Zuwanderer, wissen aber auch, dass deren geringer Bildungsstand die Latinos hindert, zu einer echten Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu werden.
von Werner Meyer-Larsen
Mexiko erobert Kalifornien zurück. So etwa lautet das neueste Lamento der Weißen in diesem größten amerikanischen Bundesstaat. Der mexikanische Bevölkerungsanteil nämlich wächst dramatisch, und die Reste der mexikanischen Kultur sind dort ohnehin reich: Über zwanzig Franziskanermissionen reihen sich zwischen San Diego und Santa Rosa hintereinander. Ein großer Teil der Städtenamen geht auf sie zurück und Hunderte anderer Ortsnamen auf alte Haziendas aus spanisch-mexikanischer Zeit.
Diese Vergangenheit ist Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einer Art Operettenkrieg verabschiedet worden. Weiße Einwanderer, die es auf Gold, Kupfer und Silber abgesehen hatten, bestimmten damals die Szene in Kalifornien. Unter dem Präsidenten James Polk wurde Kalifornien 1850 als 31. Staat in die USA aufgenommen. Die Amerikanisierung des Gebietes verlief schnell, konsequent und erfolgreich. San Franziskos Eisenbahnbarone, imperial wie sie sich gaben, verbanden die pazifische Landschaft rasch mit der atlantischen. Der Westküstenstaat wurde schließlich zum Trendsetter in punkto Technologie und Lebensqualität. Das wäre er natürlich nie geworden, hätten die Latinos ihn behalten. Nun aber ist er wenigstens wieder die größte mexikanische Gemeinde außerhalb Mexikos. Und die Mexikaner sind Kaliforniens zahlenstärkste Minderheit.
Es wird nicht lange dauern, bis diese Aussage auch für die USA als ganze gilt. Denn vor allem in Texas, Florida, New Mexico und Arizona wächst die Latino-Bevölkerung in ähnlichem Maß, darunter die der Mexikaner am schnellsten: Buenas Dias, Señores. Die Gonzales und Santos, die Perez und Rodriguez kommen oft auch ungefragt über die Grenze.
Der Grenzfluss Rio Grande verhindert das nicht. Und offizielle Einwanderungsquoten sind ein Witz. Mindestens fünf Millionen Mexikaner leben illegal in den USA. Sorgsam beschützt von ihren Landsleuten und überaus fleißig, verhalten sie sich sehr unauffällig. Denn so alle zehn bis fünfzehn Jahre winkt eine Amnestie. Sie sind dann Amerikaner, was ihre auf US-amerikanischem Boden geborenen Kinder schon vom ersten Tag an sind.
Dies alles unterscheidet sie gründlich von den traditionellen Einwanderern der USA. Mexikaner sind, wenn sie ins Land wollen, nicht so zuverlässig in See- und Flughäfen zu kontrollieren wie alle anderen. Sie haben auch nicht ihre Brücken zur Heimat abgebrochen, wenn sie die US-Grenze überqueren. Eher im Gegenteil. Während sie in die USA einwandern, wandert ein Teil des von ihnen dort verdienten Geldes zurück nach Mexiko, wo die Großfamilie sitzt und ernährt werden will. Zumal sie sich meist um die zurückgelassenen Kinder, gelegentlich gar um die bereits in den USA geborenen, kümmert.
Dies alles hat zwischen Amerikanern und Mexikanern eine Art Hassliebe hervorgebracht, aus der sie sich gegenseitig nicht befreien können und es im Grunde auch gar nicht wollen. Wer als Angehöriger der weißen Bourgeoisie mexikanischen Gärtnern oder Straßenarbeitern begegnet, hat keine Schwierigkeiten, sie allesamt für Illegale zu halten. Zahllose Geschichten zu diesem Thema gehen um und werden genüsslich ausgeschmückt. Wie zum Beispiel kommt der illegale Brownie an seine legalen Papiere – also an den Führerschein, der wie ein Personalausweis behandelt wird, und an die begehrte Green Card, für deren Beschaffung Wohlhabendere ihren Anwälten bis zu 15.000 US-Dollar zahlen? Man brauche, heißt es, nur einmal während eines der sommerlichen Sandstürme im kalifornischen Central Valley genauer den Wegesrand zu beobachten. Da würden billige Kopien beider Plastikdokumente für jeweils zehn Dollar weitergereicht.
Wilde Geschichten werden auch verbreitet über die technischen Talente und die Improvisationsgabe der Mexikaner. Fährt irgendwo ein überladener Kleinlastwagen, prustend und mit schiefer Ladefläche, dann werden darin meist zu Recht Mexikaner vermutet. Um sich großen Ärger zu ersparen, fragen Polizisten selten einen solchen Fahrer nach dem Führerschein – er könnte ja falsch sein, was unsägliche Komplikationen nach sich ziehen würde.
Man ärgert sich also ständig über diese Leute. Angewidert beobachtet der amerikanische Mittelständler, wie große Handelsketten – Walmart, K-Mart oder Vons – praktische Hinweise nun auch auf Spanisch geben. In der Verkehrsbehörde Department of Motor Vehicles sind die Schalter zur Hälfte mit Mexikanern besetzt, wobei es einen besonders fuchst, dass solches Personal notwendigerweise zwei Sprachen beherrscht. Noch mehr Ärger aber bereitet es dem Amerikaner, wenn sein Gärtner nur eine Sprache beherrscht, nämlich Spanisch. Denn während der arrivierte Mexikaner fließend Englisch spricht, ist der frische Einwanderer an seinem Unwillen erkennbar, sich in der Fremdsprache zu äußern. Ganz besonders suspekt aber sind dem modernen Babbitt illegal eingewanderte Mexikanerinnen, die ihre in den USA geborenen Kinder gratis durch das amerikanische Gesundheitssystem schleusen und erwarten, dass die Ärzte Spanisch können.
Auch über Mexiko selbst gehen abenteuerliche Geschichten um. Jeder weiß ein paar Stories über die angebliche Kriminalisierung der mexikanischen Gesellschaft, deren Hauptproblem die Polizei sei. Da werden, heißt es, Amerikaner, von den südlichen Nachbarn Gringos genannt, nach allen Regeln der Kunst abgezockt. Die Polizei kassiert immer, mal behauptet sie, einer sei zu schnell, mal, er sei zu langsam gefahren. Belege dafür gibt es nie. Es genügt die Drohung, mit zur Wache zu kommen – besonders wirkungsvoll, wenn man sich auf dem Weg zum Flughafen Mexiko City befindet. Allerdings stimmen viele dieser Geschichten, wenngleich sie genüsslich ausgeschmückt werden.
Andere Horrorszenarien finden gelegentlich auch den Weg in amerikanische Tageszeitungen. Etwa wenn amerikanische Unfallopfer mit Schädelbrüchen ins Gefängnis gesperrt und dann für siebentausend Dollar freigekauft werden müssen – gelegentlich haben sie das nicht überlebt. Autodiebstähle samt kostspieliger Rückerstattungen durch den Dieb sind so beliebt, dass US-Mietwagenfirmen mit einer Mexiko-Klausel arbeiten: Bloß nicht über die Grenze fahren! Im bemerkenswerten Gegensatz dazu aber steht der rege Reiseverkehr amerikanischer Touristen an die mexikanische Pazifikküste. Dort, in Orten wie Acapulco und Puerto Valleria, gibt es dank des harten Dollars Luxus zum Sozialtarif.
Ähnliches gilt für den Immobilienbesitz an den fabelhaften Stränden der Baja California, einer Art Kurischen Nehrung hoch zehn. Wie immer in Mexiko, muss der amerikanische Käufer sich jedoch rechtzeitig über die Fallstricke im Rechtssystem des Nachbarlandes samt seiner Bakschisch-Kultur klar sein. Wer billig kauft, hat es eben mit höheren Risiken zu tun – ähnlich einem, der hohe Zinsen kassiert. Mit gewissem sportlichem Vergnügen dagegen stellen sich amerikanische Touristen vor die Garagenwerkstätten der Mexikaner und sehen zu, wie diese aus drei alten Beetles zwei neue VW Käfer machen. Das blecherne Geräusch des in Mexiko immer noch produzierten Volkswagens von einst erregt nostalgische Gefühle.
Ein besonderes Kapitel sind die Wirtschaftsbeziehungen beider Staaten zueinander. Amerikaner, die sich bemühen weiter zu denken, wissen genau, dass die mexikanische Invasion nicht zu bremsen sein wird, solange es zwischen beiden Ländern ähnlich bizarre Einkommensunterschiede gibt wie zwischen der Schweiz und Bulgarien. Gegen eine murrende Minderheit von Konservativen haben die USA deshalb ihre Freihandelszone mit Kanada und Mexiko gebildet. Zu Kanada war sie faktisch immer vorhanden. Den Mexikanern, die erst wenige Jahre zuvor von den USA vor der Staatspleite gerettet worden waren, aber hat sie sichtbar geholfen.
Mexikos wirtschaftliche Lage, auch seine ökonomische Eigenständigkeit, hat sich erstmals so weit gebessert, dass sich der ewige Kreislauf, wonach ein Zuwachs an Wertschöpfung sogleich wieder durch das Bevölkerungswachstum ins Minus verkehrt wird, eines Tages stoppen lassen wird. Inzwischen auch von steigenden Ölpreisen getrieben, beginnt Mexiko sich an die Ränder des westlichen Industrialismus heranzutasten – "begünstigt" durch niedrige Löhne drinnen und einen starken Dollar draußen.
Bei allem, was sie an ihren Mexikanern auszusetzen haben, wissen die US-Bürger aber auch, was sie an ihnen haben. Dass sie es wissen, ärgert sie andererseits auch wieder. Denn nur mexikanische Einwanderer der ersten Generation, und wirklich nur sie, können den bemerkenswerten Lebensstandard der amerikanischen Mittelklasse im sogenannten Sonnengürtel garantieren: Während in Europa, Japan, Australien und Neuseeland allenfalls Unternehmen und sehr wohlhabende Leute ihre Anwesen von Berufsgärtnern pflegen lassen, alle anderen so etwas aber selbst tun, denkt die Mehrheit der sozialen Klasse Amerikas nicht im Traum daran, sich deshalb die Finger zu beschmutzen. Dafür hat man seine Mexikaner.
Die verstehen zwar von sensibler Gartenarbeit so gut wie nichts, dafür aber zeichnet sie ein ungebrochenes Verhältnis zum Lärm aus. Da sind sie sich übrigens mit vielen Amerikanern einig. Alles geht mit benzingetriebenen Rasenmähern, mit Kantenschneidern und mit Luftgebläsen, die jedes Blatt von der Straße pusten. Mit ähnlichem Eifer wie die amerikanischen Männer das Recht auf einen gewerbsmäßigen Gärtner verteidigen, mühen sich ihre oft berufstätigen Frauen um Janitors – nach unserem Sprachgebrauch Putzfrauen -, die für einen niedrigen Stundenlohn viel arbeiten. Hier liegt das Dorado der wirklich Illegalen, denn natürlich handelt es sich meistens um Geschäfte ohne Rechnung.
Da keine amerikanische Familie minderjährige Kinder alleine zu Hause lassen kann, gibt es auch in diesem Bereich eine amerikanisch-mexikanische Notgemeinschaft, die beiden Seiten etwas einbringt – der arbeitenden Mittelklasse Prestige und Bequemlichkeit, den Mexikanern Bares. Kurz, die mexikanischen Einwanderer verschaffen der US-Mittelklasse das Leben eines Gutsherrenstands, das sie sich sonst nicht leisten könnte. Sich über den billigen Mexikaner zu mokieren gehört jedoch dazu. Man möchte ihn verachten, braucht ihn aber auch. Hinzu kommt, dass Mexikaner sich einfach nicht verachten lassen, sich für ihre Plackerei nicht schämen, weil hinter allem ein Konzept steht: Nie wieder in mexikanischen Verhältnissen leben zu müssen.
Die Mittelklasse, mehr aber noch weiße und schwarze Randgruppen, fühlen bei den Leuten von südlich der Grenze eine gewisse innere Stärke, eine ruhelose Vitalität. Herumgelungert wird selten in ihren Kreisen. Manche haben zwei, zumindest anderthalb feste Jobs. Der Wille, ein eigenes Haus zu besitzen, was als amerikanischer Traum gilt, ist unter Latinos ausgeprägter als bei anderen Gruppen gleichen Einkommens. Dies wiederum imponiert dem konservativen Amerikaner durchaus. Neidvoll beobachtet er die höchst familiäre Lebensweise der Einwanderer aus dem Süden, die unbedingte Hilfsbereitschaft innerhalb des Clans oder der Gruppe, während in seinen Krisen alles auseinanderdriftet.
Natürlich geben Mexikaner mit ihrem Widerstand, schnell Englisch zu lernen, dem Schulsystem mancher Bundesstaaten Rätsel und Probleme auf. Unwillig sehen die Alteingesessenen zu, wie viel Geld die Regierung für die Sprachausbildung der Latinokinder ausgeben muss, weil es ein verfassungsmäßiges Recht auf Sprachschulung gibt. Da diese Kinder Englisch meistens zuhause nicht lernen, müssen die Lehrer ran. Das raubt den Schulen viel Kapazität – und den Latinokindern den rechtzeitigen Zugang zu den Grundbegriffen anderer Wissensgebiete. Dass Mexikaner ziemlich unten in der Erfolgsskala des Bildungssystems stehen, beobachtet man in den besseren Kreisen aber wiederum mit satter Frivolität. Es schützt alte Privilegien.
Bei alledem ist den Amerikanern manches Mexikanische auch nicht ganz geheuer. An mexikanische Speisekarten, preiswert wie ihre Inhalte sind, kann er sich gut gewöhnen. Auch dass mexikanische Einwanderer sich nur notgedrungen westlichen Werten zuwenden, lässt sich ertragen. Es schützt eben die alten Privilegien und letztlich auch die technische Elite des Landes. Mexikaner, das weiß man in Corporate America, werden auch auf längere Sicht die wirtschaftliche, technische und naturwissenschaftliche Oberklasse des Landes nicht bedrohen können.
Unheimlicher ist manchem US-Amerikaner da schon die feste Bindung ihrer inzwischen größten Einwanderergruppe an die katholische Kirche. Man fürchtet um die religiöse wie die ethnische Dominanz des "alten" Amerika. Diese sieht man zwar als von vielen Seiten gefährdet, am meisten auf lange Sicht aber von den Mexikanern. Man möchte die am liebsten kleinhalten, mehr auf Servicefunktionen beschränken, damit Menge nicht sogleich auch in Qualität umschlägt. In diesem Punkt gibt es eine instinktsichere schweigende Mehrheit.
Last not least ruft zunehmende Irritation hervor, dass sich der Mexikaner auch nicht in ein anderes Denkschema der amerikanischen Gesellschaft hineinpressen lässt: in die ungeschriebenen, aber sehr ausgeprägten ethnischen Konzepte Amerikas. Die werden von Mexikanern, die mehrheitlich Mischlinge sind, glatt durchkreuzt. An sozialer Gruppenbildung oder Ideologie via Hautfarbe sind sie, wie übrigens auch viele andere Latinos, schlicht nicht interessiert. Das anglo-amerikanische Streben nach einer mehr oder weniger strikten Trennung der verschiedenen Rassen in eigenen Regionen um eigene Schwerpunkte und mit eigenen Ansprüchen hat Amerikas angelsächsisch geprägte Gesellschaft trotz aller Konvulsionen stets berechenbar gemacht.
Das mexikanische Mestizentum – mestizaje – wird in solche Schemen nicht hineinpassen. Mischlinge von Tradition und Kultur, werden sie die Wir-gegen-sie-Philosophie der mehrfach geteilten amerikanischen Gesellschaft nicht mitmachen. Amerika im 21. Jahrhundert wird anders werden durch die Mexikaner. Dumpf spürt es die schweigende Mehrheit, wehrt sich dagegen durch eine gewisse Distanz zur Latino-Kultur, doch ausrichten wird sie nichts. Denn, nicht wahr, die Mexikaner werden ja gebraucht, so oder so.
aus: der überblick 02/2000, Seite 66
AUTOR(EN):
Werner Meyer-Larsen:
Werner Meyer-Larsen ist freier Autor in Kalifornien. Er war lange Redakteur und USA-Korrespondent des Spiegel.