Die Legitimität des politischen Systems in China leidet unter Korruption
Chinas Bevölkerung zeigt sich zunehmend unzufrieden mit der verbreiteten Korruption im Land. In Bedrängnis geraten hat die Führung der Kommunistischen Partei wiederholt erklärt, dass der Bestand des politischen Systems davon abhänge, ob die Korruption eingedämmt und erfolgreich bekämpft werden könne.
von Thomas Heberer
Die Schwierigkeit dabei ist, dass als Korruption nicht nur strafrechtlich relevante Tatbestände wie Bestechung oder Unterschlagung zu betrachten sind. Auch gewisse Formen, wie Individuen oder Gruppen über traditionelle Beziehungsnetzwerke durch wechselseitige Gefälligkeiten Einfluss, Macht oder Vorteile zu erlangen suchen, grenzen an Korruption. Dies können Patronage, Klientelbeziehungen, Seilschaften und Nepotismus oder die Nutzung von "sozialen Beziehungen", die auf chinesisch Guanxi heißen, zu Funktionären sein.
Zwar gibt es deutliche Berührungspunkte zwischen Guanxi und Korruption, beide Phänomene sind allerdings nicht identisch. Die dahinterstehenden sozialen und ethischen Vorstellungen unterscheiden sich. Guanxi ist ein wichtiges Konzept im Leben der Chinesen. Darüber werden sowohl individuelle als auch Gruppeninteressen durchgesetzt. Solche Beziehungen gründen sich auf bestimmte Gemeinsamkeiten, wie lokale Herkunft, Erfahrungen oder andere gesellschaftliche Verbindungen und entwickeln sich zunächst mit Personen, zu denen eine direkte Verbindung besteht.
Guanxi erfordert, dass beide Seiten etwas geben können: Zum Beispiel Einfluss, Protektion, Zugang zu knappen Gütern und Dienstleistungen, Aufstiegs- oder Gewinnchancen. Wenn keine direkten Verbindungen zu einflussreichen Personen bestehen, werden Beziehungen "geknüpft": man sucht eine Person aus dem eigenen Guanxi-Netz, die über verschiedene Kanäle die gewünschte Verbindung herzustellen vermag. Guanxi erfüllt also die Funktion einer sozialen Investition. Es ist eine auf Austausch gründete Beziehung zwischen Personen oder Institutionen, in der wohlverstandene Rechte und Verpflichtungen zwischen zwei Parteien eingegangen werden. Guanxi ist in ein Geflecht von wechselseitigen Verpflichtungen mit emotionalen Komponenten.
Solche Beziehungen sind vorrangig geworden in einer Zeit rechtlicher und politischer Unsicherheit, in der häufig andere Netzwerke wie Clan oder Dorfgemeinschaft keinen sozialen Schutz mehr bieten können. Darüber hinaus gewinnen sie an Bedeutung, um die Leitlinien von Politik und politische Einzelentscheidungen beeinflussen zu können, denn formal besteht kaum die Möglichkeit zur persönlichen Beteiligung und den zumeist schwachen Institutionen fehlt es an Durchsetzungskraft. Da aber informelle Gruppen oder Beziehungsnetzwerke zur Erlangung von Macht oder Vorteilen sich über staatlich gesetzte, ethisch-moralische, gesellschaftliche oder politische Normen hinwegsetzen und auf diese Weise den Beteiligten Vorteile verschaffen, begünstigt dieses Verhalten Korruption und vermengt sich zum Teil mit dieser. Zwei einander widerstreitende Rechtsvorstellungen existieren also nebeneinander: staatliches Recht, das dieses Verhaltensmuster als Korruption ächtet und traditionelle Normen, die in der Pflege und Nutzung von Beziehungen eine Form sozialer Verpflichtung sehen.
Zwar spielen Beziehungen auch in westlichen Gesellschaften eine wichtige Rolle. In Ländern wie China aber durchziehen sie das gesamte Gesellschaftsgefüge und wirken damit als Proto-Korruption, also als Korruptionspotenzial, während in demokratisch verfassten Gesellschaften solchen Beziehungen durch Recht und demokratische Kontrolle enge Grenzen gesetzt sind. Doch es sind nicht so sehr die "kulturellen" Besonderheiten Chinas, die das Phänomen erklären.
Korruption wird vielmehr begünstigt durch systemimmanente Faktoren. Dazu gehören die Monopolstellung der Partei, die fehlende Gewaltenteilung, die unklare Trennung von öffentlichen und privaten Räumen, die staatliche Kontrolle der Ressourcen sowie das Entwicklungsgefälle zwischen einzelnen Landesteilen und zwischen Stadt und Land. Das Scheitern des revolutionären Modells führt zudem zu einem Wertewandel und zu einer die Korruption begünstigenden Haltung. "Für die Menschen gibt es gar keine Normen mehr. Wenn sie denken, sie können mit etwas erfolgreich sein, kennen sie keine Bedenken", erläutert Yu Hua, einer der bedeutendsten Schriftsteller Chinas.
Gerade die Einleitung von Reformen hat Momente freigesetzt, die der Korruption förderlich sind, etwa die Dezentralisierung, die Öffnung der Beziehungen zum Ausland, Ausweitung der Marktmechanismen, die Wanderungsbewegungen sowie die neue Eigentumsstruktur. Da das Machtmonopol der Partei nicht angetastet und Instrumente zur Kontrolle der Funktionäre bislang nicht eingeführt wurden, können diese ihre Verfügungsgewalt über Ressourcen und Güter relativ ungehindert zur Eigenbereicherung nutzen. Auch der Wegfall des ideologischen Leitbildes spielt beim Anstieg der Korruption eine Rolle. Manch einer ist nicht mehr Mitglied in der Partei, um politische Ziele zu verfolgen, sondern um Karriere zu machen, persönliche Vorteile zu erlangen sowie die erworbene Macht zu vermarkten. Dieser Wandel verstärkt korruptes Verhalten unter Funktionsträgern.
Die Folgekosten sind hoch: Gegenüber Funktionären und damit gegenüber Partei und Staat breitet sich Misstrauen aus, öffentliche Ressourcen werden verschwendet, politische Instabilität herrscht, die Regierungspolitik wird umgangen, und Unternehmens-, Innovations- und Investitionsinitiativen werden gedämpft. Zudem verstärkt die Korruption das Einkommensgefälle und behindert sozialen Ausgleich. Der Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei verliert dadurch an Legitimität, zumal die Korruption in China weniger eine Sache von Einzelpersonen ist, die strafrechtlich verfolgt oder moralisch geläutert werden könnten, sondern vielmehr dominiert die Organisationskorruption. In 60 Prozent der zwischen 1995 und 1997 verfolgten Korruptionsfälle waren öffentliche Institutionen Ämter, Organisationen, Staatsbetriebe verwickelt.
Weil die Bevölkerung immer unzufriedener wird und weil die Parteiführung durchaus begriffen hat, dass das ihre Glaubwürdigkeit und Legitimität grundsätzlich bedroht, werden kontinuierlich Antikorruptionskampagnen durchgeführt. Aber die Bevölkerung bleibt zu Recht skeptisch gegenüber offiziellen Erfolgsmeldungen. Die Einstufung der Korruption als primär ideologisches und nicht juristisches Problem trägt dazu bei, dass Korruptionsfälle häufig als moralisch-ideologische Verfehlungen angesehen werden und nicht als Straftatbestände. Und sowieso sind ohne Zustimmung höherer Parteiorgane keine Strafverfahren gegen Funktionäre möglich, so dass die Rechts- und Untersuchungsorgane keine Zugriffsmöglichkeiten haben, wenn Parteigremien die Schuldigen gegen die Justizorgane in Schutz nehmen.
Die Parteiführung versucht heute, sich als einzige Kraft gegen Korruption zu etablieren. Aber ihre Maßnahmen müssen letztlich halbherzig bleiben, weil es tabu ist, die Korruption als systemimmanent zu betrachten und über Korruption auf höchster Ebene meist ein Mantel des Schweigens gelegt wird. Korruptionsbekämpfung erfolgt nur exemplarisch auf der unteren und mittleren Ebene.
Für die Mitglieder der politischen Elite gilt ohnehin, dass aufgrund ihrer Macht und vielfältiger (legaler) Privilegien direkte Korruption eher uninteressant ist. Von daher ist die strafrechtlich relevante Korruption bislang auch stärker außerhalb der Führungsschicht zu suchen, obgleich es vereinzelt immer wieder spektakuläre Fälle gibt: Zum Beispiel wurde Chen Xitong, damals Politbüromitglied und Parteichef von Peking, 1998 zu einer hohen Haftstrafe verurteiltet. Die Bevölkerung warf ihm vor, die Hauptstadt wie sein eigenes Reich zu regieren. Beschuldigt wurde er unter anderem, im Zusammenhang mit der Kandidatur Chinas für die Olympischen Spiele 2000, Korruptionsgelder von Bauunternehmen kassiert zu haben.
Im August 2000 wurde der Vizevorsitzende des Nationalen Volkskongresses Chinas Cheng Kejie wegen schwerer Korruption sogar hingerichtet. Ihm war die Annahme von Bestechungsgeldern in Millionenhöhe für die Vergabe von Regierungsaufträgen vorgeworfen worden. Auch der ehemalige Parteisekretär der Provinz Hebei, Cheng Weigao, wurde 2003 wegen Korruption verurteilt.
Sämtliche Antikorruptionskampagnen konnten bislang allerdings nicht verhindern, dass sich das Übel immer weiter ausbreitet. Die Parteiführung zögert auch, allzu entschieden gegen Korruption vorzugehen. Denn das birgt die Gefahr, das Bündnis zwischen den politischen Eliten verschiedener Ebenen zu gefährden. Viele mittlere und untere Kader müssten bei erfolgreicher Korruptionsbekämpfung Einkommenseinbußen hinnehmen und könnten sich deshalb unter Umständen gegen die Parteiführung verschwören.
Die Dichotomie der Korruption einerseits ist sie staatlich geächtet, weil sie die Gesetze verletzt, andererseits ist sie staatlich gebilligt, weil sie sich im Rahmen des Erlaubten (Privilegien, Seilschaften) abspielt erschwert eine effektive Bekämpfung zusätzlich. Korruption wird nicht "an sich" bekämpft, sondern nur funktional, soweit sie die Legitimität der herrschenden Elite in Frage stellt. Die Bekämpfung der Korruption auf der unteren Ebene soll von der Korruption auf höherer Ebene ablenken und den Bürgern demonstrieren, die Parteiführung sei ein entschiedener Gegner dieses Phänomens.
Die kontinuierliche Ausarbeitung immer neuer gesetzlicher Bestimmungen, die bis in kleinste Details und sogar auf Lokalitäten und Institutionen bezogen der Korruption einen Riegel vorschieben sollen, wird die Probleme nicht lösen. Nicht das Fehlen gesetzlicher Bestimmungen, sondern das politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale System, einschließlich der traditionellen Guanxi-Netzwerke, begünstigen Korruption.
Effiziente Bekämpfung würde gesellschaftliche Transparenz, öffentliche und soziale Kontrolle der Funktionsträger voraussetzen, unter anderem durch Pressefreiheit und unabhängige Gerichtsbarkeit. Nötig wäre deshalb ein Korb grundlegender Veränderungen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, gesellschaftlicher und rechtlicher Hinsicht. Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) müssten als zivilgesellschaftliche Kontrollinstanz Korruptionsfälle öffentlich machen. Die Rechtsinstitutionen müssten von Partei und Regierung unabhängig werden, und nicht zuletzt müssten sich die Denk- und Verhaltensstrukturen der Gesamtgesellschaft wandeln. Zwar erhielten die Medien in den letzten Jahren zumindest zeitweise größeren Spielraum bei der Aufdeckung von Korruptionsfällen: beherzte Journalisten gingen vor allem auf der lokalen Ebene Korruptionsfällen nach und Fernsehsendungen wie das Drama "Schwarzes Loch" (Erstausstrahlung Dezember 2001) oder die ab März 2002 ausgestrahlte Suchsendung "Chinas meistgesuchte korrupte Funktionäre" standen symbolisch für verstärkte Korruptionsbekämpfung.
Aber der Fall des Journalisten Jiang Weiping, der auf eigene Faust Korruptionsfälle zahlreicher mächtiger Funktionäre aufgedeckt hatte und im September 2001 unter dem Vorwand des "Verrats von Staatsgeheimnissen" in einem Geheimprozess zu neun Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings Anfang Januar 2006 vor Ablauf seiner Haftzeit freigelassen wurde, zeigt, dass die Rolle der Medien in dieser Hinsicht beschränkt ist. Eine unabhängige, unkontrollierte Berichterstattung wird nach wie vor nicht gewünscht.
Korruption, so zeigt sich in vielen Entwicklungsländern, unterminiert die Herrschaft von Eliten. Sie führt zu Loyalitätsverlusten und Entfremdung zwischen dem Staat und seinen Bürgern. Dabei können schlechte Erfahrungen mit Korruption in starken Staaten durchaus Gutes bewirken, wenn das Problembewusstsein geschärft und die Ursachen analysiert werden und die Diskussion über nötige Veränderungen schließlich Druck auf die Herrschenden ausübt. Auf diese Weise würde der gesellschaftliche Diskurs über Korruption einen Weg zu grundlegenden politischen Veränderungen öffnen.
In China befindet sich die Parteiführung in einem Dilemma: Sie muss einerseits die Korruption bekämpfen, kann aber andererseits das Übel in der Partei selbst nicht angehen, solange sie am Monopol ihrer Herrschaft festhält.
Ernstzunehmende Versuche der Bekämpfung und Eindämmung der Korruption gibt es durchaus. Die Regierung versucht Schranken zu errichten, indem sie neue Überwachungsgremien schafft und sich bemüht, für die Bürokratie klare Sachkriterien und Rechtsgrundsätze festzulegen. Auf der lokalen Ebene sollen zugleich größere Transparenz und Mitgestaltung verwirklicht werden. Es soll gesetzlich geregelte Wahlen der Dorfleitungen geben, und die städtischen Wohnviertel sollen reorganisiert werden. Mehr politischer Wettbewerb und Transparenz auf der Basis von Wahlen und Rechenschaftspflicht sollen zu einer verstärkten Kontrolle durch die Bevölkerung führen. Auf der Stadtebene hat jetzt jedermann Zugang zu den Behörden der Stadtverwaltung, und Behördenbesucher erfahren die Namen, Zuständigkeiten und Pflichten der jeweiligen Beamten. Darüber hinaus erfolgen Ausschreibungen von Beamtenstellen zunehmend öffentlich und im Prüfungsverfahren. Das Internet bietet immer mehr Informationen über Ausschreibungen und Vergaben an.
Meine eigenen Untersuchungen in China zeigen: Auch wenn dies bei weitem noch nicht überall funktioniert, so ist gleichwohl ein Trend erkennbar, gegen die Korruption nicht nur von oben durch parteiinterne "Disziplinkontrollkommissionen" und andere Kontrollinstitutionen von Partei und Staat tätig zu werden, sondern auch die Bevölkerung einzubeziehen.
aus: der überblick 02/2006, Seite 24
AUTOR(EN):
Thomas Heberer
Thomas Heberer ist Professor für Ostasien- und Politikwissenschaften
mit dem Schwerpunkt Ostasien an der Universität
Duisburg.