Meditation über 2. Mose 23, 8
"Du sollst dich nicht bestechen lassen;
denn Bestechung macht Sehende blind und
verkehrt die Sache derer, die im Recht sind."
(2. Mose 23, 8)
Der Begriff Korruption entstand aus dem altkirchlichen
Wort für Sünde, corruptio. Der Kampf gegen
das globale Krebsgeschwür am Leibe der Gesellschaft
gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Religion
in jedem Land. Der Missbrauch der Religion
aber ist die gefährlichste Form der Korruption. Sie
korrumpiert vor allem die Religion selbst.
von Karl Rennstich
Korruption ist eine Krankheit, für die alle Nationen anfällig sind, egal ob groß oder klein, reich oder arm. Das betonte der Malaysier Tunku Abdul Aziz, Vizepräsident von Transparency International (TI), im Sommer 2002 in einem Vortrag in Kuala Lumpur. Deshalb müsste der ganze Erdball der Korruption energisch und entschlossen entgegentreten. Korruption sei das am längsten überlebende und härteste von allen Viren. Es existiere noch heute so frisch wie in alten Zeiten.
Das Problem der Korruption treibt mich seit vielen Jahren um. Ich erlebte 1969 als Missionar und Entwicklungshelfer in Sabah (Ostmalaysia) unter den Ureinwohnern in Borneo zum ersten Mal Korruption, als ein Politiker mit Hilfe der islamischen Religion seine Macht durchsetzen wollte und Angehörige anderer Religionen mit hohen Geldsummen "kaufte", damit sie zum Islam übertraten. Bei meinen Forschungen über die Korruption stellte ich fest, dass auch christliche, hinduistische, buddhistische und andere Religionsangehörige ihre Religion missbrauchten, um ihre politischen Ziele durchzusetzen.
Meine Arbeit als Entwicklungshelfer zeigte mir, dass das größte Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung die Korruption ist. Meine Studenten in Singapur erklärten mir dann später in den 1970er Jahren, Korruption sei vornehmlich ein Problem der Industrienationen des Westens (einschließlich Japan), denn diese würden in Singapur und anderen Teilen Asiens durch Bestechung der politischen Elite ungeniert höchste Gewinne erzielen.
Nach meiner Rückkehr nach Europa erklärten mir meine Studenten in Basel in den 1980er Jahren, Korruption sei nur ein Problem der so genannten "Dritten Welt". Korruption war für viele meiner Kollegen kein theologisches Thema. Inzwischen ist in Europa selbst "Korruption in der Wissenschaft", so der emeritiert Toxikologie-Professor Otmar Wassermann, zu einem großen Problem und wichtigen Thema geworden. Wie Hans Küng bin ich überzeugt, dass wir der globalen Bedrohung durch Korruption nur im Konzert der Religionen begegnen können.
Die Mahnung aus dem Zweiten Buch Mose, sich nicht bestechen zu lassen, gehört zum so genannten Bundesbuch, der ältesten Gesetzessammlung Israels. Der Geltungsbereich dieses Gebotes umfasst Kläger, Zeugen und Richter gleichermaßen. In der Rechtsprechung wird zwischen Geschenk und Bestechung (sachod) unterschieden. Verboten ist sowohl aktive als auch passive Bestechung. Der wichtigste hebräische Begriff für Bestechung im Alten Testament ist sochad. Daneben gibt es eine Reihe anderer Begriffe wie beispielsweise baetza (ungerechter Gewinn) und kopaer. Der Geltungsbereich umfasst Kläger, Zeugen und Richter gleichermaßen. Ein anderes Wort für Korruption ist Treuebruch. "Sich bestechen lassen" wird im Zweiten Buch Mose (18,21) als Verletzung der Beziehung des Menschen zu Gott charakterisiert. In den Augen der Propheten ist sochad ein Gemeinschaftsbruch innerhalb des Volkes und damit auch gegen Gott.
In 1. Samuel 12,3 beteuert Samuel in seiner Abschiedsrede an das Volk, dass er kein Bestechungsgeld angenommen habe. Seine Söhne jedoch "wandelten nicht in seinen Wegen, sondern suchten ihren Vorteil und nahmen Geschenke und beugten das Recht" lesen wir in 1. Samuel 8,3. "Gewinnsucht" ist die "Mutter der Korruption". Der Prophet Jesaja (56,9-12) klagt die Anführer des Volkes an, "dass sie nur am eigenen Vorteil Interesse haben; jeder jagt seinem (ungerechten) Gewinn nach". In die gleiche Richtung geht auch Jesaja 57,17, wo es heißt: "Gott zürnt Israel wegen der Schuld seines unrechtmäßigen Gewinnstrebens." In Jesaja 6,13 (identisch mit 8,10) wird die Gewinnsucht des ganzen Volkes mit den Worten gegeißelt: "Sie sind alle auf Gewinn aus", was dann im Paralleltext so erläutert wird: "Sie alle üben Betrug." Hier haben wir die ganze Stufenleiter der Korruption: Sie beginnt bei den Oberen, weitet sich auf die Mittelschicht aus und infiziert schließlich das ganze Volk.
Aber man kann zum Widerstand gegen Korruption erziehen. Die Lehrer der Weisheit sammelten die Lebenserfahrung in Israel und den Nachbarvölkern. Sie sollten helfen, die neuen Herausforderungen der Zeit zu bestehen. Die Erziehung beginnt bei den Kindern. Von den Ägyptern lernten die Lehrer der Weisheit: die Bestechung der Richter "zertritt" die Armen. Das führt am Ende zum Zerfall der Gesellschaft. "Sei nicht neidisch auf böse Menschen und begehre nicht, in ihrer Gesellschaft zu sein! Denn ihr Herz sinnt auf Gewalttat, und Unheil reden ihre Lippen."
Der Weise kennt sehr wohl die "Schliche" der Korrupten. Er weiß, dass gute Gesetze und eine gute Regierung einander ergänzen müssen, um das Wohl der Gesellschaft zu gewährleisten. Denn "wenn ein Herrscher auf Lügen hört, so werden alle seine Diener zu Schurken." (Sprüche 29,12) Der gerechte Herrscher dagegen "hat ewigen Bestand" (Sprüche 29,14). Die wichtigsten gesellschaftlichen Tugenden sind Gebefreudigkeit, Toleranz und Demut. "Wenn deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so gib ihm zu trinken" (Sprüche 25,21). Wo diese Werte das Zusammenleben der Menschen bestimmen, fällt der Korrupte auf. Er kann sich nicht durchsetzen, sondern wird zum Außenseiter in der Gesellschaft. "Des Rechttuns Frucht ist ein Baum des Lebens, Unrecht tun aber nimmt das Leben" (Sprüche 11 ,30). Aus der Thora lernen die Menschen, dass der "gerechte Mensch" zum Aufbau und der Erhaltung des Wohls aller beiträgt. Ein solcher Mensch wird zum Vorbild der Jugend: "Disziplin liebt, wer Erkenntnis liebt; wer die Rüge hasst, der bleibt dumm" (Sprüche 12,1). Wer den rechten Weg des Lebens finden will, braucht scharfe Augen und einen wachen, kritischen Sinn.
Die vielgesichtige Korruption involviert immer mehr als eine Person. Dieses gesellschaftsrelevante Vergehen ist in ethischen Kategorien "soziale Sünde". Geheimnistuerei, Betrug oder Täuschung sind ihre Kennzeichen. Die korrupten Aktivitäten werden meistens getarnt. Da Korrupte in der Regel mächtig genug sind, Entscheidungen zu beeinflussen, erfinden sie immer neue Gesetze, um ihre korrupten Handlungen zu legalisieren. Das ist die moderne Form der "Rechtfertigung". Der Korrupte rechtfertigt sich so selber.
Der malaysische Soziologe, S. H. Alatas kommt auf Grund Jahrzehnte langer Beobachtung der Korruption zum Ergebnis, dass die wesentlichen Kennzeichen der Korruption in allen Teilen der Welt die gleichen sind. Korruption existierte im privaten wie im öffentlichen Sektor, in reichen wie in armen Ländern. Sie beinhalte Bestechung, Erpressung, ungebührliche Einflussnahme, Nepotismus, Betrug und "Beschleunigungsgelder", um den Entscheidungsprozess von Regierungsmitgliedern zu schmieren.
Die Bibel ist voll von Geschichten der Korruption, von Menschen, die ihr Amt missbrauchen, aber auch solchen, die sich den Verlockungen der Korruption widersetzen. Das früheste Amt in Israel ist das Ältestenamt. Zum ersten Mal werden Älteste im Bericht über die Befreiung Israels aus Ägypten erwähnt: "Gott sah die Unterdrückung des in Ägypten lebenden Volkes. Deshalb ist Gott "herabgekommen, um das Volk aus der Gewalt Ägyptens zu erretten und es aus jenem Land hinaufzuführen in ein gutes und weites Land". Die Ältesten sollen nach Gottes Wunsch dabei helfen (2. Mose 3,7.8.16.17). Es gab aber auch Älteste, die ihr Amt missbrauchten, indem sie "als Führer und Richter das Recht verdrehten und Gerechtigkeit und Wahrheit hassten". Das hatte Folgen: "Die treue Stadt, die voll war des Rechts, ist zur Dirne geworden. Gerechtigkeit wohnte in ihr, jetzt aber Mörder! Wein wurde mit Wasser verfälscht. Die Mächtigen wurden zu Gesellen der Diebe" (Jesaja 1, 21-26).
Welche Folgen es hat, wenn das Wissen um Gott missachtet wird, zeigt auch Jeremia (22,13-16) am Beispiel des Königs Jojakim, der "sein Haus mit Unrecht baut und seine Söller mit Unehrlichkeit, der seinen Nächsten umsonst arbeiten lässt und ihm den Lohn nicht bezahlt!" Der König im Sinne Gottes dagegen "übte Recht und Gerechtigkeit, den Elenden und Armen verhalf er zum Recht. 'Heißt nicht das, mich erkennen?' spricht der Herr". Wissen um Gott bedeutet: Treue und Liebe herrscht im Land (Hosea 2,1-2). "Bestechung nimmt man in dir, um Blut zu vergießen; Zins und Zuschlag nimmst du und übervorteilst deinen Nächsten mit Gewalt, und meiner vergissest du, spricht Gott der Herr" (Hesekiel 22,12f ).
Das Deuteronomium, eine Gesetzessammlung aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. fordert, dass die Korrupten aus Israels Mitte auszurotten seien, damit sie "nie mehr eine solche böse Tat in deiner Mitte tun" (5. Mose 13,11). "Verflucht, wer sich bestechen lässt" (5. Mose 27,25). Psalm 15,5 sieht als Maßstab des Gerechten: Gast sein in Gottes Zelt darf, "wer (...) nicht zum Nachteil des Schuldlosen Bestechung annimmt."
Ursache ist das "Begehren" (hamad), das im zehnten Gebot als "Begehren der Ehefrau des Nächsten wie das seiner Knechte, Mägde, seines Viehs und aller seiner Habe" (2. Mose 20,17) beschrieben wird. Sexuelle Gier und materielle Habsucht haben die gleiche Wurzel. Korrupte rasa (Frevler) stellen Fallen auf, "um zu verderben, um Menschen zu fangen. Wie ein Korb voller Vögel, so sind ihre Häuser voll erlisteten Guts; darum sind sie groß geworden und reich. Auch übertreten sie das Recht: Sie schaffen der Waise nicht ihr Recht und führen nicht die Sache der Witwe." (Jeremia. 5, 26)
Der Korrupte treibt im Dunkeln seine Geschäfte: "Wehe denen, die Arges sinnen auf ihren Lagern, die nach Äckern gieren und sie rauben, nach Häusern und sie wegnehmen; die Gewalt üben an dem Mann und seinem Haus, an dem Besitzer und seinem Erbgut! (...) Die das Gute hassen und das Böse lieben, die den Leuten die Haut vom Leibe reißen und das Fleisch von den Knochen (...) dann zumal werden sie zu dem Herrn schreien, aber er wird sie nicht erhören (...), weil sie so schlecht gehandelt haben." Micha 2, 1-2; 3, 1-4. Das Gute, hebräisch tob (das Brauchbare), wird ins Gegenteil verkehrt (conrumpere), wird korrumpiert (1. Mose 1, 31). Daraus resultiert: "alles Trachten und die Gebilde der Gedanken ihres Herzens" sind ra (böse). Diese bösen Gedanken lenken das Denken der Menschen und bestimmen ihr Leben, gegenteilig zu dem, was in Jesaja 11,1-10 als Friede und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft (shalom) beschrieben wird. Korruption ist "etwas Massives, Ansteckendes, Verseuchendes und wirkt sich auf den Lebensraum der Menschen aus.
Weil des Menschen Herz zerbrochen ist, steht die "Schöpfung am Abgrund", wie Günter Altners berühmter Buchtitel lautet. Den Gottlosen haften hamas (Sünde) wie eine ansteckende Krankheit an. "Sie nähren sich vom Brot des Frevels und trinken vom Wein der Gewalttat" (Sprüche 4,17). Die Folgen der Korruption sind bis hinein in die Nahrungskette zu spüren: "Sie werden ihr Brot in Bekümmernis essen und ihr Wasser mit Entsetzen trinken (...) Die bewohnten Städte werden veröden, und das Land wird zur Wüste werden" (Hesekiel 12, 19-20). Auf hamas (Sünde) folgt sod, Misshandlung und Verheerung.
Alle Weltreligionen betrachten die Korruption als schlimmste Sünde. Hinduismus und Buddhismus haben eine alte Tradition der Korruptionsbekämpfung. Die für seinen Unterhalt erforderlichen Güter soll der Mensch durch untadelige Beschäftigungen erwerben. Das steht im Einklang mit der Weisheit Manus, dem legendären Gesetzgeber der indischen Mythologie und ersten König Indiens von dem alle anderen Könige ihre Abstammung herleiten. Er meinte, dass ein König nur solche Menschen für höhere Positionen auswählen solle, die integer, weise, fest gegründet und fähig seien, Geld zu verwalten. Der ganze Besitz korrupter Beamten soll beschlagnahmt werden. Der gute Regent müsse das Volk gegen korrupte Beamte in Schutz nehmen. Mahatma Gandhi (1869-1948) gab den Ministern in der Regierung und den Abgeordneten den Ratschlag, ein einfaches Leben zu führen und so Vorbild für die Massen zu werden.
Im Islam ist Korruption in Form von Bestechung, Amtsmissbrauch und Nepotismus als eine Auswirkung des Bösen ein wohlbekanntes Phänomen. Im Koran finden wir in Sure 9, 34-35 eine deutliche Stellungnahme gegen das Horten von Geld auf Kosten der Armen: (...) "Und jene, die Gold und Silber anhäufen und es nicht aufwenden auf Allahs Weg ihnen verheiße schmerzliche Strafe. An dem Tage, wo es erhitzt wird im Feuer der Hölle, und ihre Stirnen und ihre Seiten und ihre Rücken damit gebrandmarkt werden: Dies ist, was ihr angehäuft habt für euch selber; kostet nun, was ihr anzuhäufen pflegtet."
Nicht die Religionen sind das Problem, sondern die Gläubigen, welche die Lehren ihre Religion nicht befolgen. Nicht nur "Politiker, die Vettern der Wirtschaft ", die viel Geld ausgeben für die "Pflege der politischen Landschaft" und gelernt haben "Hand aufheben und dann Hand aufhalten", wie sie der Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner in seinem Buch "Korruption in Deutschland. Portrait einer Wachstumsbranche" nennt wir alle sind aufgerufen, Ernst zu machen mit der uralten hochaktuellen Aufforderung: "Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind" (2. Mose 23, 8).
Das Thema Religion und Korruption hat mich in meinem Leben immer mehr bewegt. Ich habe gelernt, dass jeder Mensch korrumpierbar ist. Wer sich sauber dünkt, betrügt sich am meisten. Da ich glaube, dass Korruption nicht auszurotten ist, sondern höchstens gezähmt werden kann, versuche ich mich durch meinen christlichen Glauben gegen diese Krebskrankheit der Gesellschaft zu wappnen. Hilfe fand und finde ich dabei in der Bibel.
aus: der überblick 02/2006, Seite 112
AUTOR(EN):
Karl Rennstich
Karl Wilhelm Rennstich ist außerordentlicher Professor für Theologie an der
Universität Basel und Direktor des Pastoralkollegs in
Bad Urach. Er hat als Pfarrer und Entwicklungshelfer
in Sabah, Malaysia, und als Professor am Trinity
College in Singapur gearbeitet.