Tansanias Christen sollten Frauen mehr Einfluss geben - auch in den Kirchen
Die Bekämpfung von Aids gehört in Tansania zu den vordringlichen Aufgaben der Kirchen. Sie müssen dabei Tabufragen angehen, insbesondere die der Geschlechterrollen - auch in der Kirche selbst. Die Aids-Arbeit zu unterstützen, ist ein Schwerpunkt der kirchlichen Hilfe für Tansania. Dabei wäre es aber unklug, den Tansaniern Vorstellungen aufzudrängen, die jenseits ihrer Lebenswirklichkeit liegen.
von Sonja Weinreich
Naomi ist 16 Jahre alt und lebt in einem Dorf in der Nähe von Bukoba im Nordwesten Tansanias. Ihr Vater ist 1996 und ihre Mutter im letzten Jahr gestorben. Die Eltern sind vermutlich an Aids gestorben - beide waren lange Zeit chronisch krank. Naomi hat ihre Mutter über Monate, bis zu ihrem Tod, gepflegt. Sterben und Tod der Eltern mitzuerleben, war ein Trauma für die Kinder.
Tansania ist eines der Länder, die stark von HIV/Aids betroffen sind: Im Landesdurchschnitt sind schätzungsweise 8 bis 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mit HIV infiziert. Am meisten sind die Städte betroffen, die Infektionsraten in den ländlichen Gebieten haben jedoch zugenommen. Durch den frühen Tod so vieler junger Erwachsener hat die Epidemie katastrophale Folgen für die ganze Gesellschaft. Unter anderem hat sie schätzungsweise 700.000 Waisenkinder zurückgelassen. Antiretrovirale, das heißt spezifisch gegen das Aids-Virus wirkende Medikamente, die in reichen Ländern Aids weitgehend in eine chronische Erkrankung umgewandelt haben, sind in Tansania nicht verfügbar - sie sind zu teuer. Die lebensverlängernden Therapien sind für Tansanier, die die meisten Gesundheitsausgaben selbst bezahlen müssen, und für staatliche Gesundheitsprogramme unerschwinglich. Eine Aids-Erkrankung endet daher in Tansania in fast allen Fällen nach einigen Jahren der Infektion mit dem Tod.
Naomi ist schon "Haushaltsvorstand" - sie sorgt allein für ihre beiden 8 und 12 Jahre alten Brüder. Sie geht jeden Tag zur Schule, das bedeutet sechs Stunden Unterricht plus je zwei Stunden Hin- und Rückweg. Danach ist sie eigentlich viel zu erschöpft, um noch weiterzuarbeiten. Trotzdem arbeitet sie dann noch in dem kleinen Bananengarten am Haus, um das Nötigste für das Überleben sicherzustellen. Bananen sind die Hauptnahrung in dieser Region Tansanias.
Da es in ihrem Dorf wie in vielen Dörfern Tansanias kein fließendes Wasser in den Häusern gibt, muss Naomi außerdem zweimal mit einem Zehn-Liter-Eimer zum eine halbe Stunde entfernten Brunnen gehen. Öfter zu gehen schafft sie nicht, und ein größeres Gefäß kann sie sich nicht leisten: Ein 20-Liter-Eimer würde umgerechnet etwa 3 Euro kosten, das ist ein Vermögen für das Mädchen, denn sie verdient ja nichts. Die Kinder müssen also mit sehr wenig Wasser auskommen: 20 Liter müssen für Trinken, Kochen und Waschen ausreichen. Das Haus, in dem die Geschwister wohnen, ist baufällig, weil es seit langem nicht mehr instandgesetzt worden ist. Naomi hat Angst und Alpträume, weil sie befürchtet, dass des Nachts Diebe kommen und sie ausrauben. Ihre Belastung hat sich jetzt auch auf ihre schulischen Leistungen ausgewirkt, und sie wird das jetzige Schuljahr wiederholen müssen.
Naomi und ihre Brüder haben noch eine Tante, die in der Nähe wohnt. Sie und andere Verwandten haben sich jedoch von den Geschwistern abgewandt, weil sie nicht mit Aids in Berührung kommen wollen: Die Kinder werden diskriminiert, weil die Eltern an Aids gestorben sind.
Die Kirchen in Tansania haben, wie auch in anderen Ländern, unterschiedlich auf die Epidemie reagiert. Während in den ersten Jahren die Aids-Epidemie noch als medizinisches Problem wahrgenommen und die Bedrohung eher verdrängt wurde, gab es schließlich Ansätze, der Herausforderung aktiv zu begegnen. In einer Ökumenischen Konsultation in Nairobi im November 2001, an der Vertreter von Kirchen aus ganz Afrika teilnahmen, wurde klar benannt, dass die Kirchen im Kampf gegen Aids viel versäumt haben: Sie haben Infizierte nicht angenommen, sondern im Gegenteil eher ausgegrenzt. Mehr und mehr wird erkannt, dass der Überwindung des Stigmas, mit dem die Infektion immer noch umgeben ist, entscheidende Bedeutung zukommt.
Die Kirche in Bukoba war eine der ersten, die auf HIV reagiert und Programme begonnen hat, die Aufklärung und Erziehung und auch Betreuung der Betroffenen leisten. Sie hat ein Waisenprogramm, von dem auch Naomi und ihre Brüder profitieren. Das Programm bezahlt das Schulgeld für Naomi, die sonst die weiterführende Schule verlassen müsste. Für die beiden Brüder werden die Schuluniformen für die Grundschule bezahlt (das Schulgeld dafür ist vom tansanischen Staat abgeschafft worden). Eine Nachbarin hat sich jetzt bereit erklärt, den einen der Brüder bei sich aufzunehmen. Die Frau und ihre Familie sind allerdings selbst sehr arm und brauchen Unterstützung, um den Jungen zu versorgen.
Was können die Kirchen tun? Haben sie spezifische Aufgaben bei der Bekämpfung von Aids? Die Seuche betrifft die ganze Gesellschaft und macht teilweise hart erkämpfte Fortschritte wieder zunichte. Aids führt zu Rückschritten in der Lebenserwartung und der Kindersterblichkeit und zu einer Zunahme der Armut. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen.
Die Kirchen in Tansania müssen sich auch Tabuthemen stellen, um die weitere Verbreitung von Aids zu verhindern. Dazu gehören nicht nur Sexualität und Tod. Das sexuelle Verhalten ist eingebettet in soziales Verhalten, in Geschlechterrollen und in die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Der Virus überträgt sich, wo Frauen geringes Selbstbestimmungsrecht im sozialen und ökonomischen und dann eben auch sexuellen Bereich haben. Naomi zum Beispiel ist in ihrer Lebenssituation sehr verletzlich und läuft ein hohes Risiko, infiziert zu werden. Würde sie die Unterstützung vom Waisenprogramm nicht erhalten, dann hätte sie vielleicht wie viele andere Mädchen Geschlechtsverkehr mit einem älteren, relativ wohlhabenden Mann, der ihr dann den Schulbesuch bezahlen würde. Das betrifft nicht nur Waisenkinder, da der Schulbesuch für Mädchen zwar für die spätere Unabhängigkeit entscheidend, aber wegen der Armut der Familien oft nicht bezahlbar ist.
Hier müssen auch und gerade Kirchen zur Aufklärung beitragen. Dabei geht es nicht nur um die Fragen der sexuellen Enthaltsamkeit und des Gebrauchs von Kondomen. Die meisten Kirchen möchten Kondome nicht propagieren, da befürchtet wird, dies würde Promiskuität und vorehelichen Geschlechtsverkehr fördern. Es ist hier jedoch wichtig, zunächst einmal anzuerkennen, was gegeben ist, und die Menschen da abzuholen, wo sie sind. Man muss nach den Gründen fragen, warum junge Menschen Sex vor der Ehe haben. So wichtig Kondome sein mögen, es geht um mehr: Den Jugendlichen müssen die Fähigkeiten vermittelt werden, die sie brauchen, um ihr Leben selbst zu bestimmen. So muss eine Entscheidung, keinen Sex haben zu wollen, auch durchgehalten werden können, oft entgegen der sozialen Umwelt. Es geht bei der Bekämpfung von Aids auch wesentlich um tiefgreifende Änderungen in der abhängigen Stellung von Mädchen und Frauen, um Geschlechterrollen, die einen verantwortlichen Umgang von Männern mit Sexualität behindern, und um eine Armutsbekämpfung, die den Schulbesuch von allen Kindern ermöglicht.
Die Kirche muss auch der Frage nachgehen, wie sie selbst mit Frauen und Mädchen umgeht. Dabei muss nicht nur die Zulassung von Frauen zum Pfarramt angesprochen werden, sondern auch, welche Stellung Frauen in den Gemeinden einnehmen. Wird ihnen mit Respekt begegnet? Können sie leitende Funktionen übernehmen, und das nicht nur in Frauengruppen? In vielen Kirchen sind sowohl die hauptamtlichen als auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter überwiegend Männer. So ist es auch im Waisenprogramm in Bukoba. Um Frauen und Mädchen an der Basis und in den Gemeinden ansprechen zu können, braucht die Kirche Frauen, die verantwortlich mitarbeiten. Mädchen brauchen weibliche Vorbilder in der Kirche, um eigenverantwortlich leben und Strukturen infrage zu stellen zu können und auch, um in der Kirche beheimatet zu sein.
Die Kirchen haben zudem ein großes, bisher weitgehend ungenutztes Potenzial, die Gemeinden wesentlich stärker miteinzubeziehen, ja die Gemeinden selbst die Programme durchführen zu lassen. Hier müssen Kirchen ihre Vorstellungen vom Dienst an der Gemeinde hinterfragen und zu einer wirklichen Autonomie und Stärkung der Gemeinden finden.
Was können die deutschen Kirchen und die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit hier tun? Zunächst einmal sollten wir bereit sein, unsere eigenen Einstellungen und unser Verhalten kritisch zu betrachten. Oft ist man der Meinung, bei uns wären die Probleme überwunden. Bei näherem Hinschauen zeigt sich dann aber, dass Aids-Infizierte in Deutschland, ähnlich wie in Tansania, unter Stigmatisierung leiden. Dies wird oft als der schlimmste Aspekt der Infektion erfahren. Ein anderes Problem ist die Einstellung der Kirchen in Deutschland zu Homosexuellen und anderen sogenannten Randgruppen. Weiter sollten wir uns davor hüten, zu wissen, was für Afrika - Tansania in diesem Fall - gut ist. So gibt es auch hier strenge Verfechter der Haltungen "Für Kondome" oder "Gegen Kondome", die keine anderen Strategien gelten lassen und dabei die Lebenswirklichkeit der Betroffenen aus dem Auge verlieren.
Die Haltung der Kirchen Frauen gegenüber ist auch in Deutschland nicht ungebrochen, und Gleichberechtigung ist noch lange nicht erreicht. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Stärkung der Frauen in den Kirchen ein langwieriger, tiefgreifender Prozess ist, der gegen viele Widerstände durchgesetzt werden muss. Wenn das im Bewusstsein bleibt, kann es zu einem fruchtbaren Dialog zwischen deutschen und tansanischen Kirchen kommen, was die Bekämpfung von Aids und die Rolle der Geschlechterverhältnisse hierbei angeht. Dieser Dialog findet an vielen Stellen schon statt. Wir haben bei den Partnern in Tansania sehr viel Offenheit und Bereitschaft gefunden, über die drängenden Probleme zu sprechen.
Insgesamt besteht Grund zur Hoffnung, dass - bei allen betrüblichen Nachrichten, die uns über HIV/Aids erreichen - die Länder Afrikas es schaffen werden, mit der Bedrohung fertig zu werden. Sie brauchen dazu allerdings unsere konstruktive Unterstützung, auch in Form von Bewusstseinsbildung und Lobby-Arbeit hier in Deutschland.
Aids-ArbeitSchwerpunkt für die kirchlichen WerkeDie Aids-Bekämpfung und die Hilfe für Aids-Kranke gehört zu den Schwerpunkten der kirchlichen Entwicklungsarbeit in Afrika, auch in Tansania. Brot für die Welt und der EED (bzw. vor dessen Gründung die EZE) engagieren sich hier seit Jahren. Das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen spielt als Fachstelle Gesundheit für den evangelischen Entwicklungsdienst auf diesem Gebiet eine führende Rolle. Eine Delegation des Rates der EKD hat Ende 2000 nach einer Reise ins südliche Afrika dem Engagement der Werke gegen Aids einen zusätzlichen Impuls gegeben. Der Schwerpunkt schlägt sich in der Projektarbeit nieder. Brot für die Welt zum Beispiel fragt grundsätzlich seine tansanischen Partner bei Entwicklungsprojekten, was sie in der Aids-Frage tun, und unterstützt lieber solche, die darauf eine überzeugende Antwort geben. Zudem finanzieren der EED und Brot für die Welt zwei Mitarbeitende der beim DIFÄM angesiedelten Aids-Arbeitsgruppe. Die eine, Sonja Weinreich, berät Werke - auch etwa Missionswerke - , wie Entwicklungsprojekte mit Blick auf Aids gestaltet werden sollten. Der andere, Matthias Börner, richtet sich an die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Er koordiniert das Aktionsbündnis gegen Aids, das der EED, Brot für die Welt, die Kindernothilfe, das DIFÄM und drei Missionswerke auf den Weg gebracht haben (inzwischen haben sich 12 weitere Organisationen dem Trägerkreis angeschlossen). Das Bündnis fordert die Bundesregierung auf, die Aids-Arbeit stärker zu unterstützen, und verlangt von der Pharma-Industrie, lebensrettende Medikamente gegen Aids in armen Ländern zu Produktionskosten abzugeben. Etwa 900 Aktionsgruppen und Kirchengemeinden wirken daran mit. bl |
aus: der überblick 02/2002, Seite 110
AUTOR(EN):
Sonja Weinreich:
Dr. Sonja Weinreich hat als Ärztin von 1995 bis 2000 mit einer NGO im Bereich HIV/Aids in
Sambia gearbeitet. Seit 2001 ist sie HIV/Aids-Beraterin für Entwicklungsprojekte kirchlicher
Werke mit Sitz im Deutschen Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen.