Ich hasse Abschiede. In jeder Form. Auch schriftliche. Sollen doch jene schreiben, die den Überblick verlieren wollen, ich will ihn behalten und nicht Abschied nehmen. Aber es hilft ja wohl nichts mehr, die Schlacht ist geschlagen, der Kampf um den Erhalt des "überblick" in seiner bisherigen Form ist verloren. Ein Blick zurück auf den – viel zu früh – Verstorbenen, wie es sich für eine anständige Beerdigung gehört.
von Eberhard Hitzler
Wie wohl in keinem anderen Land der Welt entstand in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Eine-Welt-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Aus den Ruinen des Nationalismus und Rassenwahns wuchs in drei Jahrzehnten eine phantastisch vielfältige Flora und Fauna aus Dritte-Welt-Aktivisten, Weltläden, Dritte-Welt-Partnerschaften, Solidaritätsgruppen, Ökumene-Aktivisten, Entwicklungs- und Nothilfe - Organisationen, Entwicklungshelfern. Wohl auch aus der Erfahrung empfangener Hilfe aus vielen Ländern der Welt entstand ein Bewusstsein und eine Bewegung, die bis heute in ihrer Tiefe und Breite keine Parallele hat, weder in Deutschland noch sonst irgendwo. Auch wenn deren Niedergang derzeit heftig bejammert wird, der Abstieg erfolgt von einem recht hohen Niveau.
Ohne die Verdienste säkularer Gruppen, der römisch-katholischen Kirche oder gar der Regierungen der Bundesrepublik schmälern zu wollen: Die evangelischen Kirchen in Deutschland waren wohl die wichtigsten Brutstätten für die phantastische Artenvielfalt der Eine-Welt Flora und Fauna. Sowohl die Leitung der EKD, Synode und Kirchenamt als auch verschiedene EKD-Gliedkirchen haben sich in den sechziger und siebziger Jahren für die Ökumene und für die Dritte Welt engagiert, den Aufbau verschiedener Werke und entsprechender Einrichtungen aktiv unterstützt. Die bunte Blumenwiese der Drittweltaktivitäten, Netzwerke, Publikationen, Bildungsmaßnahmen, Organisationen wurde insbesondere gehegt und gepflegt, gefördert und geschützt von Persönlichkeiten in verschiedenen Funktionen und Rängen in der evangelischen Kirche: Christian Berg und Bischof Hermann Kunst, die Gründerväter von "Brot für die Welt" und EZE, Warner Conring, Eberhard le Coutre, Gerhard Grohs, Manfred Kulessa, Günther Linnenbrink, Edda Stelck, Paul Collmer, Martin Pörksen, Adolf Wischmann, Klaus Wilkens und Manfred Drewes, um nur einige wenige beispielhaft für die erste und zweite Generation der "Internationalisten" der evangelischen Kirche zu nennen, waren eifrige Gärtner dieser Blumenwiese. Eine der großartigsten und sichtbarsten Blüten in diesem Blumenmeer ist "der überblick".
"Das erste Heft erschien im März 1965. Aus bescheidenen Anfängen hat sich eine der führenden deutschsprachigen Zeitschriften für Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und der internationalen Politik entwickelt." So jedenfalls die Selbstauskunft auf der Homepage. Eine "erfrischend neugierige Zeitschrift für Entwicklungspolitik" wurde "der überblick" unlängst in der "Zeit" genannt. Doch das wollte "der überblick" eigentlich nie sein. Erfrischend neugierig ja, aber nicht nur eine Zeitschrift für Entwicklungspolitik.
Der Untertitel "Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit" führt weit darüber hinaus; vielleicht sogar zu weit für die, die den "überblick" in den letzten Jahren finanziert haben und die eine stärkere Orientierung an der bundesdeutschen entwicklungspolitischen Debatte vermisst haben. Doch es war gerade der Verdienst der Redaktion, den Blick auf verschiedene Realitäten unserer Welt weit über die entwicklungspolitische Weltsicht hinaus erweitert zu haben. Eine kurze Exegese des Untertitels "für ökumenische Begegnung..." gibt einen Eindruck dessen, wofür "der überblick" stand.
"Ökumenische Begegnung" als Programm ist auch heute eine immer noch oder wieder die aktuelle Antwort auf eine provinzielle Engstirnigkeit der Gesellschaft und der Kirchen – "Die Wiederentdeckung der Welt als Scheibe" hat deshalb Eberhard le Coutre einen Kommentar zur EKD-Zukunftswerkstatt betitelt, der diese beschränkte Sichtweise aufs Korn nahm. Das Motto "für ökumenische Begegnung" gibt Auskunft über die Identität der Zeitschrift: Sie ist kirchlich basiert und ökumenisch im Sinne der weltweiten Ökumene orientiert. Nicht nur über den Kirchturm hinaus zu schauen, sondern auch einander zu begegnen, sich auf andere Menschen und Kulturen, andere Meinungen, Welt- und Gottesbilder einzulassen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sich von ihnen anregen, aufregen, stören zu lassen, das hat den "überblick" immer wieder ausgezeichnet.
"Internationale Zusammenarbeit" als programmatische Ansage und vielleicht auch als Anfrage an die engere Terminologie der Entwicklungshilfe, später euphemistisch in Entwicklungszusammenarbeit umbenannt, ohne dass sich damit ihr Charakter wesentlich verändert hat. "der überblick" vermeidet lange Zeit bewusst den umstrittenen Begriff Entwicklungszusammenarbeit und entzieht sich der engeren Logik und den Interessen der Hilfswerke ohne diese dadurch auszuschließen oder sich von ihnen völlig abzugrenzen. Spannungsfrei war das Verhältnis des "überblick" zu den Werken nie. In einem "Forum" wurde zwar dem Verständnis als "Verbandszeitschrift" Genüge geleistet und aus den Werken berichtet. Doch der eigentliche Schwerpunkt des "überblick" war von den Debatten, Sichtweisen und Logiken der Werke meist weit entfernt. Dafür gab es dort nicht immer Verständnis, und ich muss gestehen, auch ich hätte zuweilen den "überblick" lieber als Sprachrohr der Positionen der Werke und als Werbeträger ihrer Arbeit gesehen. Im Rückblick und mit etwas mehr Abstand zu den Werken schätze ich heute gerade diesen anderen Blick auf die Welt, den "der überblick" geliefert hat. Das Heft über Schönheit beispielsweise, auch wenn dieses mich nicht auf Anhieb interessierte, hat ungewöhnliche, aber wichtige Einblicke gegeben in kulturelle Aspekte und Einstellungen, die ihnen zugrunde liegen. Und so ging es mir mit vielen Themen, die einen etwas anderen Blick gaben auf die Welt.
"Zeitschrift für" sagt mir, dass "der überblick" keine Zeitschrift ist, die über etwas berichtet. Sondern in erster Linie eine Publikation ist, die sich für etwas einsetzt, die ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit fördern will. Keine Frage, "der überblick" hat das geleistet, zumindest für viele, die sich dafür interessiert haben. Nur die Beschreibung als Zeitschrift ist ungenau, wie ein kritischer Beobachter einmal bemerkt hat: ",der überblick‘ ist eine Publikation, die sich nicht entscheiden kann, ob sie eine Zeitschrift oder ein Buch sein will". "der überblick" war keine einfache Lektüre, eher etwas für lange Zugfahrten oder entspannte Abende.
Die mit dem gewählten Untertitel erhobenen Ansprüche wurden über viele Jahrzehnte erfüllt. Damit hat "der überblick" nicht nur einen wichtigen Beitrag zur entwicklungspolitischen Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Sondern er hat – einem leider zu kleinen Leserkreis – beharrlich und erfolgreich deutlich gemacht, dass Deutschland, die Kirchen in Deutschland keine Inseln sind, dass Deutschland, die EKD und ihre Entwicklungsorganisationen nicht das Zentrum der Welt sind. Er hat über die manchmal insulare entwicklungspolitische Debatte in Deutschland hinaus gewiesen und ihr neue Impulse gegeben. Tempora mutantur et nos mutamur in illis – die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen.
"der überblick" hat sich in den vergangenen 43 Jahren immer wieder verändert, im Layout, im Stil, und das mehrfach. Immer wieder wurde angepasst, nach neuen Wegen gesucht. Und kaum ist die letzte große Umgestaltung vorbei, soll es nun endgültig aus sein. Ich weiß, dass dies nicht die korrekte Ausdrucksweise ist; nein, "der überblick" soll natürlich erhalten werden in einem neuen Gefüge, mit neuer Zuordnung, neuer Redaktion, neuem Verlag, neuem Redaktionssitz etc. Schon klar, mit weniger Mitteln wird alles besser, schöner, effektiver, effizienter. Allein mir fehlt der Glaube.
Aber es stimmt ja, die Zeiten haben sich geändert und ändern sich immer noch. Es stimmt ja auch, dass die Finanzierung des "überblick" nicht leicht ist angesichts rückläufiger Mittel des Kirchlichen Entwicklungsdienstes. Es stimmt auch, dass es dem "überblick" nicht gelungen ist, ein finanziell tragfähiges Konzept zu entwickeln und sich auf dem allgemeinen Zeitschriftenmarkt zu etablieren. Doch dass die evangelischen Kirchen in Deutschland und ihre Entwicklungswerke ihr eigenes "publizistisches Flaggschiff" (Bischof Rolf Koppe) versenken, das wie keine andere Publikation für einen weltoffenen und ökumenisch orientierten Protestantismus stand, ist zumindest bedauerlich. Aber vielleicht fügt sich diese Entscheidung ja in einen Trend: Die Aufklärung und die damit verbundene Säkularisierung scheinen ein Auslaufmodell zu sein und ohnehin außerhalb Europas nie wirklich Fuß gefasst zu haben. "der überblick" hat das oft genug beschrieben. Die Aufklärung hat allerdings den modernen Protestantismus in Europa weitgehend geprägt, der wiederum Grundlage für das oben genannte Ideal der ökumenischen Begegnung und der Internationalen Zusammenarbeit ist. Vielleicht ist der Lieblingsspruch "der überblickler" nun auch in unserer Kirche nicht mehr zeitgemäß: "Ich glaube nicht, dass derselbe Gott, der uns Sinne, Vernunft und Verstand gab, uns ihren Gebrauch verbieten wollte." (Galileo Galilei). Gerade deshalb werde ich den "überblick" vermissen. Ein letzter Gruß und Dank, an die Gründerväter und Gründermütter und an die Redaktion, die den "überblick" zu einer einzigartigen Zeitschrift gemacht hat.
Hätte ich allerdings einen Wunsch frei – oder die nötigen Mittel – dann würde ich mir ganz unbescheiden nicht nur die Fortsetzung des deutschen "überblick", sondern dessen internationale Vervielfältigung wünschen: auf englisch, spanisch und französisch. Eine vom ökumenischen Rat der Kirchen getragene Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit, die im Geist und in der Tradition des deutschen "überblick" weitergeführt wird.
aus: der überblick 04/2007, Seite 92
AUTOR(EN):
Eberhard Hitzler
Eberhard Hitzler ist Direktor der Abteilung für "Weltdienst des Lutherischen Weltbundes" (LWB), Genf.