Wieso diese Gratwanderung ohne den "überblick" schwieriger wird
"Die Heiden sind zwar die schlechtesten Menschen, aber ihr Land ist sehr gut an Fleisch, an Honig, an Mehl, an Vögeln. Wenn es gut bebaut wird, ist es mit solchem Überfluss aller Erträgnisse gesegnet, dass kein Land mit ihm verglichen werden kann. Deswegen, Sachsen, Franken, Lothringer, Flamen, ihr berühmten Weltbezwinger, auf! Hier könnt Ihr Euer Seelenheil erwerben, und wenn es Euch gefällt, noch das beste Siedelland dazu!" So steht es im Magdeburger Aufruf zur Besiedelung des Slawenlandes aus dem Jahre 1108. Die gegenwärtig daran erinnert werden, sind die Besucher des Sorbischen Museums in Bautzen. Hier treffen sich die Nachfahren jener Weltbezwinger, um einen Blick auf die eigene Geschichte zu werfen und sich daran zu erfreuen, wie das Andere, das gewaltsam Unterworfene, zur folkloristischen Bereicherung des Eigenen geworden ist und sich darin offenbar genügt.
von Lothar Brock
Wäre es nicht wunderbar, wir könnten ein solches Museum heute schon für die ganze Welt errichten – ein Museum, in dem zu sehen wäre, wie blanke Raffgier sich summa summarum als Ausdruck einer zivilisatorischen Begabung des Menschen erweist, und wie aus Mord und Totschlag endlich doch ein erfreuliches Ganzes wird, in dem konkurrierende Geltungsansprüche nicht länger in Kriegen und Bürgerkriegen ausgefochten werden, sondern in Schaukästen geordnet, in Videos komprimiert und auf Musikkonserven aufgezogen als Zeichen für die wunderbare Vielfalt menschlicher Lebensverhältnisse zu bestaunen wären?
Könnte man ein solches Museum errichten, so wäre das tatsächlich das Ende der Geschichte, das Francis Fukuyama mit dem Ende des Ost-West-Konflikts gekommen sah. Inzwischen ist Fukuyamas Diagnose aber kein Thema mehr. Zu Recht, denn der Zusammenbruch des Realsozialismus ging zwar mit einer dritten Welle der Demokratisierung einher, bedeutete aber keinen Sieg der liberalen Demokratie im Sinne einer endgültigen Entscheidung aller großen (welt-)gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu ihren Gunsten. Im Gegenteil: "neue Kriege" und state failure, Rohstoffverknappung und Klimawandel, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der transnationale Terrorismus, die politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Risiken der Globalisierung und der Aufstieg Chinas und Indiens – all das weist auf eine neue Runde großer Konflikte, von der allerdings noch nicht klar ist, wer gegen wen und wer wofür steht.
In dieser Situation sind die Kirchen erneut gefordert, sich untereinander darüber zu verständigen, wie sie ihre Rolle in der Entwicklung der Weltverhältnisse verstehen wollen und was es heißt, wenn sie sich zu ihrer Weltverantwortung bekennen, beziehungsweise aus den eigenen Reihen aufgefordert werden, dies zu tun. Eine Verständigung in dieser Sache ist schwierig, wie sich zuletzt bei der Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Porto Alegre gezeigt hat. Das liegt unter anderem darin, dass das Reden von der Weltverantwortung der Kirchen einer Gratwanderung gleichkommt; denn der Anspruch, Weltverantwortung wahrzunehmen läuft darauf hinaus, das Weltganze von einer dieses Ganze transzendierenden Position heraus in den Blick zu nehmen, wobei aber der damit verbundene Kompetenzanspruch von Akteuren erhoben wird, die ganz und gar und unaufhebbar in die bestehenden Verhältnisse eingebunden und verstrickt sind.
Es handelt sich hier um ein Dilemma, das nicht aufgehoben werden, sondern nur in seinen Konsequenzen abgemildert werden kann, indem man in der Art, wie man Weltverantwortung versteht und beansprucht, Raum für die Auseinandersetzung mit der Anmaßung lässt, die der Inanspruchnahme von Verantwortung (für das Weltganze) eingeschrieben ist.
In einer seiner bemerkenswerten Meditationen in "der überblick" (4/2006) hat Eberhard le Coutre sich unter der Überschrift "Die Kirchen, die Ökumene und die Unordnung der Welt" mit der Jahreslosung 2007 befasst, die da lautet: "Gott spricht: Siehe ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht?" (Jesaja 43, 19a). Eberhard le Coutre erinnert an zwei große Stationen in dem Bemühen der Kirchen, diese Botschaft aufzunehmen und sie als Wahrnehmung von Weltverantwortung zum Handeln der Kirchen und jedes einzelnen Christen in Beziehungen zu bringen: die Gründung des ÖRK 1948 in Amsterdam und die Vollversammlung des ÖRK von Uppsala im Jahre 1968.
Die Gründung des ÖRK stand im Zeichen von Holocaust und des Zweiten Weltkrieges. Damals stellte sich die Aufgabe, unter dem Eindruck des kaum vergangenen Schreckens und der Verstrickungen der Kirche in ihm eine gemeinsame Sprache zu finden, in der Sieger und Besiegte, Opfer und Täter miteinander reden konnten. "Zwanzig Jahre später, 1968 in Uppsala", so schreibt le Coutre, "war ein anderer Widerspruch beherrschend geworden: das Missverhältnis zwischen den reicher werdenden reichen und den ärmer werdenden armen Ländern und der in ihnen lebenden Kirchen und Christen". In Amsterdam ging es um Weltverantwortung als Weg zur Versöhnung, in Uppsala um Weltverantwortung als Helfen und Teilen. Das Neue bedarf des tätigen Eintretens für die Erneuerung, so hieß es in Uppsala. "Im Vertrauen auf Gottes erneuernde Kraft rufen wir Euch auf: Beteiligt euch an dieser Vorwegnahme des Reiches Gottes und lasst heute schon etwas von der Neuschöpfung sichtbar werden, die Christus an seinem Tag vollenden wird."
Die Botschaft von Uppsala fand in der Bundesrepublik Deutschland ein ebenso schnelles wie konkretes Echo: Wenige Monate später rief die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von Spandau die Mitgliedskirchen dazu auf, zwei Prozent ihrer Haushaltsmittel für den kirchlichen Entwicklungsdienst bereit zu stellen; und an jedes einzelne Kirchenmitglied erging die Bitte, ein Prozent seines Einkommens zur Richtlinie für Spenden an "Brot für die Welt" und vergleichbare Zwecke zu machen. Weltverantwortung wurde so auf die Ebene von Haushaltsentscheidungen kirchlicher Kollektive und jedes Einzelnen heruntergebrochen. Sie wurde in dieser Form auch im kirchlichen Entwicklungsdienst und im Spendenbetrieb der Humanitären Hilfsorganisationen institutionalisiert, was sich als Anspruch, das Reich Gottes – wenn auch nur ein stückweit – vorwegzunehmen, fast zynisch anhören könnte, aber keineswegs zynisch war.
Allerdings machte die Institutionalisierung des Helfens im kirchlichen Entwicklungsdienst schnellere und umfassende Fortschritte als der Ausbau des Teilens. Der Ein-Prozent-Beschluss geriet schnell in Vergessenheit. Eine Initiative unter den Machern und Lesern des "überblick", ihn zu beleben und zu diesem Zweck eine Selbstverpflichtung im Sinne der Spandauer Empfehlung mit einem verstärkten Mitspracherecht der Spender bei der Verwendung ihrer Mittel einzuführen, verlief – woran le Coutre erinnert – im Sande.
Heute sind wir an einer dritten Station des Ringens um Weltverantwortung der Kirchen angelangt. Sie steht im Zeichen eines neuen Widerspruchs – des Widerspruchs zwischen der Wahrnehmung eines grundlegenden Wandels aller Lebensverhältnisse, der heute mit dem Begriff der Globalisierung bezeichnet wird, und zunehmenden Schwierigkeiten derjenigen, die für sich die Kompetenz und die Fähigkeit zur Gestaltung des Wandels beanspruchen, sich untereinander über die Natur dieses Wandels, über seine historische Bedeutung, seine Verheißungen und mutmaßlichen Kosten, seine Eigendynamik und seine Gestaltbarkeit zu verständigen oder produktiv zu streiten. Dies zeigt sich in der Welthandelsorganisation, die gegenwärtig weitgehend als paralysiert gelten kann, ebenso wie im ÖRK.
Auf der bereits erwähnten 9. Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre 2006 trat an die Stelle des Versuchs, sich über die Globalisierung und ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Implikationen zu verständigen und gemeinsame Positionen zu erarbeiten der als Gebet formulierte "Aufruf zur Liebe und zum Handeln". In diesem Aufruf wird das Schuldbekenntnis, "abgestumpft gegenüber dem Leiden und der Ungerechtigkeit" zu sein und sich "den Versuchungen des Komforts und der leeren Versprechungen" hingegeben zu haben, mit der Bitte und wechselseitigen Verpflichtung verbunden: "Herr, sende uns hinaus – für die Erde zu sorgen und alles zu teilen, was für ein Leben in Gemeinschaft notwendig ist, alles Lebensfeindliche zu bekämpfen und anzuprangern, unsere Nächsten zu lieben und Gutes zu tun, so dass es dort, wo der Tod war, Leben geben wird. Wir rufen einander auf, in unserem eigenen Handeln wie auch im Zeugnis und Dienst unserer Kirchen deine Liebe für alle Menschen und für die Erde zum Ausdruck zu bringen; für die Beseitigung der Armut und den bedingungslosen Schuldenerlass einzutreten; für Land, Wasser, Luft – für das gesamte Netzwerk des Lebens – Sorge zu tragen; gerechte und nachhaltige Beziehungen mit der Erde aufzubauen; in der Arbeits-, Handels- und Finanzwelt die Macht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zu untersuchen und in die Pflicht zu nehmen" (Pro-Ökumene. Informationsdienst 1/2006).
Diese Formulierungen lassen mehr erahnen als sie ausbuchstabieren, in welcher Bedrängnis die Kirchen sich heute befinden, wenn es darum geht, das zu formulieren, was als Weltverantwortung der Kirchen und aller Christen am Beginn des 21. Jahrhunderts gelten soll, zumal den Kirchen nicht nur das Teilen weiterhin schwerfällt, sondern sogar das Helfen immer schwerer gemacht wird: Der Raum für humanitäres Handeln schrumpft, die Helfer geraten selbst zunehmend in Not.
Die Hilfsorganisationen werden selbst zur Zielscheibe jener kollektiven Gewalt, deren Folgen zu lindern sie in zunehmendem Maße als eine ihrer zentralen Aufgaben erachten. "der überblick" hatte diese beunruhigende Entwicklung, wie so oft, schon früh analysiert: "Im kruden Weltbild mancher Kämpfer gelten sie keineswegs als Vertreter eines humanitären Anliegens oder großzügiger Spendenbereitschaft von Menschen anderer Länder, sondern als Repräsentanten verhasster Regierungen oder der Arroganz der reichen Staaten. Da Informationen heute in Sekundenschnelle überall auf der Welt verbreitet werden, kann jeder seine eigene Weltpolitik exekutieren, Hauptsache, er hat ein Radio, ein Gewehr und eine Hilfsorganisationen in der Nähe." (Renate Wilke-Launer, "der überblick" 1/99).
Christliche Organisationen und die in ihrem Namen Handelnden sind vor solcher Gewalt keineswegs gefeit wie sich nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Brasilien oder Zentralamerika zeigt. Das kann man zum Anlass für die Ausarbeitung von Sicherheitsregeln und für taktische Anpassungsmaßnahmen in je spezifischen Operationsgebieten nehmen. Das tun die kirchlichen und die weltlichen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen einschließlich des Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) ja auch schon. Es unterstreicht aber bei aller Entschlossenheit dieser Organisationen, sich nicht entmutigen zu lassen, die Schwierigkeiten, die kirchliche wie weltliche Organisationen heute haben und zwangläufig haben müssen, sich darüber Klarheit zu verschaffen, wem gegenüber welche Verantwortung besteht und wie sie gelebt werden kann.
Das mag mit dazu beitragen, dass das Ringen um Weltverantwortung seine zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Kirchen als gesellschaftliche Institutionen zu verlieren droht. In der EKD-Denkschrift zum kirchlichen Entwicklungsdienst von 1973 heißt es einleitend, "dass der kirchliche Entwicklungsdienst heute zu den wichtigen Themen und Aufgaben der evangelischen Kirche in Deutschland gehört". Das wird man kirchenamtlicherseits zwar heute auch noch so unterschreiben; aber die Zentralität des Themas besteht offenbar nicht mehr. Man scheint froh zu sein, die eigene Weltverantwortung an den kirchlichen Entwicklungsdienst delegieren und damit in seiner Bedeutung für das Selbstverständnis der Kirchen entsorgen zu können. In dem Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit" werden "der Dialog der Religionen, die weltweite Ökumene, die internationale Vernetzung der evangelischen Kirche in Deutschland und das gemeinsam verantwortete weltweite Gerechtigkeitshandeln" bekanntlich "nicht eigens thematisiert" (Rat der EKD, Kirche der Freiheit, Hannover 2006).
Der Grund dafür ist vielleicht, dass das Bekenntnis zu einer "verantwortlichen Weltgesellschaft", wie es schon in den 1960er Jahren formuliert wurde, den Kirchen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Vielleicht ist es aber auch ein anderer: Das Bekenntnis zur Verantwortung in der eigenen Gesellschaft tritt gerade in dem Maße gegenüber der Weltverantwortung in den Vordergrund, in dem die Weltverhältnisse sich weiter verwirren und es immer mühseliger wird, Einigkeit darüber zu erzielen, was die Inanspruchnahme von Weltverantwortung den Kirchen abverlangt.
In der Denkschrift der EKD zum kirchlichen Entwicklungsdienst aus dem Jahre 1973 heißt es: "Der aus der Liebe fließende Weltdienst wird nicht das Paradies auf Erden schaffen. Aber er ist ein Zeichen, welches bezeugt, dass Gott die Welt liebt und zu ihrer Bestimmung bringen will". In der Wahrnehmung dieses Dienstes habe sich das Missionsdenken von seiner kolonialen Vergangenheit gelöst. Seit den Weltmissionskonferenzen von Mexiko im Jahre 1963 und Bangkok von 1973 gelte, "dass die Kirchen des Westens, des Ostens und der so genannten Dritte Welt die Mitverantwortung an dem universalen Sendungsauftrag der Christenheit gemeinsam tragen". Daraus folgt: "Die Kirchen in den Industrieländern beginnen nun, sich selbst von der Lage der Menschen in den Entwicklungsländern her neu zu verstehen". Das sind Worte, die die Schönheit christlicher Weltverantwortung zum Ausdruck bringen.
Zugleich mahnt die Denkschrift eine kritische Distanz zu weltlichen Weltbeglückungsprogrammen an: Den Mut zum Weltdienst erhalte der Glaubende, weil er in ihm "einen zeichenhaften Vorgriff auf das künftige welterlösende Handeln Gottes" sehe. Aber gerade dieser Ausblick auf das kommende Reich Gottes, so heißt es weiter, führe den Glaubenden "zur Ernüchterung gegenüber allen innerweltlichen Heilsprogrammen". Das Kernproblem christlicher Weltverantwortung liegt aber in der Unterscheidung zwischen einem Handeln, dass das kommende Erlösungshandeln Gottes bezeugt und der Indienstnahme der Religion für die Heiligung innerweltlicher Leidenschaften und Interessen.
Diese Unterscheidung verweist auf die Gratwanderung, die sich aus der Inanspruchnahme christlicher qua kirchlicher Weltverantwortung ergibt. Sie ist konstitutiv für christliches Gerechtigkeitshandeln und zugleich hoch problematisch, weil dieses Gerechtigkeitshandeln das Handeln innerweltlicher Akteure ist, die als solche unausweichlich eingebunden sind in die gesellschaftlichen Verhältnisse und politischen Machtkonstellationen, in denen sie existieren. Den Muslimen und Juden geht es ebenso, weil ja auch sie ihren Glauben an die Erlösung nur in einer unerlösten Welt und als Teil dieser Welt bezeugen können.
Die Denkschrift von 1973 befasst sich mit dieser Problematik, indem sie auf die Einbindung der Kirche in die Geschichte politischer Herrschaft verweist: "Wo der Sendungsauftrag der Kirche unter staatlichem Schutz oder gar in staatlichem Dienst und eingespannt in das jeweilige Machtgefälle wahrgenommen wird, wie es seit Kaiser Konstantin nicht selten geschehen ist, kann die Glaubwürdigkeit der Verkündigung und die Integrität des Dienstes Schaden nehmen". Die Crux ist, dass es nicht um ein "Wo" geht, sondern um ein "Weil", nicht um ein "Kann", sondern um ein "Muss". Weil der Sendungsauftrag der Kirche von dieser als innerweltliche Einrichtung wahrgenommen wird, muss die Glaubwürdigkeit der Verkündigung immer wieder Schaden nehmen. Die Folge ist, dass es unausweichlich Streit innerhalb der Christenheit darüber gibt, was die Verkündigung ihr im Kontext konkreter gesellschaftlicher Konflikte abverlangt.
In diesem Sinne spricht die Denkschrift die Gewaltfrage an. Auf der einen Seite stünden diejenigen, die davon ausgingen, dass die Anwendung von Gewalt der staatlichen Macht im Rahmen eines rechtlich eingehegten Gewaltmonopols zustünde. Werde das Gewaltmonopol missbraucht, bleibe nur, "sich mit den Leidenden solidarisch zu erklären, sich für sie einzusetzen und mit ihnen zu leiden". Auf der anderen Seite, so heißt es in der Denkschrift weiter, "steht die Überzeugung derer, die aus der Hoffnung auf das kommende Gottesreich Folgerungen für politisch-emanzipatorische Aktionen in der Gegenwart ableiten. Sie wollen dabei nicht grundsätzlich ausschließen, dass das staatliche Monopol auf Gewaltanwendung unter bestimmten Bedingungen gebrochen werden darf, wenn kein anderer Weg mehr offen bleibt für eine Veränderung menschenunwürdiger Verhältnisse".
Heute hat sich die Gewaltproblematik zum Teil umgekehrt. In den "fragilen Staaten" der Gegenwart geht es nicht in erster Linie um den Missbrauch des staatlichen Gewaltmonopols, sondern um seine Unzulänglichkeit. Im Umgang mit den Folgen stehen auf der einen Seite diejenigen, die sich für einen aktiven Schutz der betroffenen Bevölkerung notfalls mit Waffengewalt einsetzen, auf der anderen Seite diejenigen, die in solchem Schutz eher eine imperiale Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sehen. Diese Problematik bewegt auch weniger religiöse Geister, die dabei durchaus mit vergleichbaren Denkfiguren arbeiten. So hat Habermas in "Die Zeit" vom 29.04.1999 argumentiert, die Gewaltanwendung der NATO im Kosovo-Krieg sei unter bestimmten Bedingungen als Vorgriff auf eine angemessen reglementierte Weltordnung zu begreifen, in der es verlässliche Verfahren dafür gebe, materielle Normen (allen voran die Menschenrechte) zur Geltung zu bringen.
Die Bedingungen, die Habermas selbst formulierte, boten jedoch die Möglichkeit, sich argumentativ (und nicht bloß emphatisch) mit der Frage auseinander zu setzen, ob es sich tatsächlich um einen Vorgriff auf eine angemessen geregelte Weltordnung oder den Übergriff einer Partei handelte, die sich selbst als Sachwalter von Menschheitsinteressen zu legitimieren versuchte. Bezogen auf das Dilemma der Christenheit könnte in diesem Sinne verlangt werden, Kriterien dafür zu entwickeln, was christliche Weltverantwortung von der Sakralisierung innerweltlicher Ambitionen und Interessen unterscheidet. Wie weit man damit käme, sei hier dahingestellt. Entscheidend ist zunächst, sich des grundlegenden Dilemmas christlicher Weltverantwortung als innerweltliches Gerechtigkeitshandeln im Vorgriff auf das göttliche Erlösungshandeln stets bewusst zu sein.
In dem Plädoyer für eine neue Entwicklungsdenkschrift der EKD, mit dem Jörg Hübner eine Thematik aufgreift, die die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung gegenwärtig erörtert, wird die Frage aufgeworfen, "ob der kirchliche Entwicklungsdienst so ungebrochen und selbstverständlich in die Nähe des kirchlichen Verkündigungsauftrages gerückt werden" könne, wie das in der Denkschrift von 1973 getan werde. Die Denkschrift konzentriere sich in theologisch-eschatologischer Zuspitzung auf "die Frage von Macht und Gegenmacht". Heute gehe es sehr viel nüchterner darum, Entwicklungshilfe als einen Teil globaler Sozialpolitik zu verstehen, ihre Rolle im Gesamtzusammenhang von Global Governance zu sehen und für deren Finanzierbarkeit zu sorgen" ("Eins. Entwicklungspolitik" 15-16, 2007).
Jörg Hübner wendet hier die tatsächliche Professionalisierung der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit, die sie inzwischen durch ihre Eingliederung in eine global operierende Entwicklungsindustrie durchlaufen hat, ins Normative. Die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit soll dasjenige noch besser tun, was sie inzwischen schon ganz gut zu tun gelernt hat: sich für die Menschenrechte einsetzen, für menschliche Sicherheit, für den Klimaschutz und für eine nachhaltige Sozial- und Strukturpolitik; sich an der Gestaltung der Weltfinanzmärkte beteiligen, sich in ihrer sektoralen und länderspezifischen Arbeit mit den staatlichen Institutionen abstimmen und schließlich eine interreligiöse Zusammenarbeit auf all diesen Gebieten vorantreiben.
Das ist alles gut und richtig. Aber es geht heute natürlich ebenso wie im Jahre 1973 nicht nur um Fragen der Optimierung einer techno-politischen Global Governance, sondern auch um Macht- und Verteilungsfragen. Die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit muss dementsprechend reflektieren, welche Rolle sie in diesem Kontext spielt. Sie kann sich nicht mit der Rolle eines Verstärkers staatlicher Entwicklungszusammenarbeit begnügen, sondern muss Stachel im Fleisch der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sein. Zugleich muss sie aber auch die innerkirchlichen Auseinandersetzungen darüber vorantreiben, was kirchliche Weltverantwortung bedeutet, welcher Stellenwert dem Bekenntnis zur Weltverantwortung für das Selbstverständnis der Kirchen als Institutionen in je spezifischen gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen zukommt und wie diese Verantwortung gelebt werden kann.
Die Schwierigkeit liegt darin, sich in diesem Sinne auf eine Kritik der Weltverhältnisse einzulassen, die gemäß dem Motto des diesjährigen Kirchentages "lebendig, und kräftig und schärfer" ist und damit Gesprächsfähigkeit erzeugt, nicht aber anderen das Wort abschneidet. Dies ist das Kunststück, das der Rat der EKD mit seiner Schrift zur "guten Nachbarschaft" gegenüber dem Islam zu vollbringen versucht hat und um das es gegenwärtig in der Ökumene bei den Auseinandersetzungen um die Entwicklungsrichtung des Weltganzen geht.
Die einen reden vom "Imperium" und tun das in einer Weise, die letztlich nur noch die Frage nach Alternativen zulässt, nicht aber nach möglichen Reformen, die allenfalls noch als Gegenstand eines taktischen Bündnisses zur Durchsetzung der Alternative gesehen werden. Die anderen reden von der Globalisierung wie von einem natürlichen Prozess, der nur die Frage nach unterschiedlichen Gestaltungsansätzen, nicht aber nach Alternativen als vernünftig zu akzeptieren bereit ist. Die Kluft zwischen beiden ist groß wie auch die Kammer für nachhaltige Entwicklung – in abgeschwächter Form – bei ihrem Versuch erfahren hat, sich zum Thema Globalisierung zu äußern. Diese Kluft fällt sehr viel kleiner aus, wenn es um konkrete Handlungsoptionen geht, wie Bernd Ludermann kürzlich auch mit Blick auf das Globalisierungspapier der Kammer herausgearbeitet hat ("Zeitzeichen" 4/2007).
Aber abgesehen davon kann sie auch als produktive Spannung erlebt werden, so lange sie nicht mit der Bekenntnisfrage in einer Weise verbunden wird, die auf eine Sakralisierung ganz und gar menschlicher Einschätzungen hinausläuft. Produktive Spannung heißt, dass im Streit der Blick auf die Komplexität der Verhältnisse offen bleibt und zugleich die Bereitschaft gestärkt wird, sich immer wieder selbst dessen zu vergewissern, was es heißt, Zusammenhänge in der Tradition christlichen Denkens und unter Berufung auf den Glauben aber in je spezifischen Interessen- und Machtkonstellationen zu beobachten und zu reflektieren, in die man selbst verstrickt ist.
Zu beidem hat "der überblick" in den Jahren seiner Existenz einen hervorragenden Beitrag geleistet. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, gerade die Sachverhalte zur Diskussion zu stellen, die sich einer Zuordnung zu Denkschablonen entziehen und damit diese Schablonen selbst in Frage stellen. Seine selbstgestellte Aufgabe bestand stets zugleich darin, das Nachdenken darüber anzuregen, was sich aus spezifisch christlicher Sicht zum Verhältnis von "System" und "Lebenswelt" in unserer heutige Welt sagen lässt.
Die Zeitschrift ist im besten Sinne kritisch: Sie hat nie versucht, ihren Lesern nach dem Munde zu reden, sondern hinterfragt eingeübte Wahrnehmungsmuster, von denen man annehmen kann, dass sie von einem Großteil der Leserschaft geteilt wurden. Sie hat frühzeitig auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, sich mit den absehbaren Problemen Südafrikas nach der Überwindung der Apartheid auseinanderzusetzen; sie hat die Projektion eigener Wunschvorstellungen der Entwicklungsszene auf ein Land wie Tansania zur Diskussion gestellt und darüber nachgedacht, welche Einschränkungen der eigenen Kritikfähigkeit sich daraus ergeben; sie hat sachlich fundierte Analysen der Migration geliefert, die deren Bedeutung für die Entwicklung von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft im Allgemeinen und speziell für den wirtschaftlichen und sozialen Wandel in den Herkunftsländern herausarbeiten.
Die Zeitschrift gehörte auch zu den ersten Medien im deutschsprachigen Raum, die sich um eine genauere Darstellung der chinesischen Politik in Afrika bemühen und nach deren Implikationen für die Erreichung all jener Ziele fragen, zu denen sich die Entwicklungszusammenarbeit der OECD-Länder bekennt. Der Handlungsspielraum der Entwicklungspolitik wird durch die chinesische Präsenz zusätzlich und in sehr konkreter und direkter Form eingeschränkt – sei es bei der Durchführung von Straßenbauprojekten in Kenia, sei es bei dem Versuch, in Angola mehr Transparenz ins Ölgeschäft zu bringen.
Renate Wilke-Launer hat kürzlich in einem ihrer Leitartikel – die stets die Leserschaft herausfordern, lieb gewonnene Vorstellungen von der Welt zu hinterfragen –, im Rückgriff auf die Kritik Robert Calderisis an der Entwicklungszusammenarbeit festgestellt ("der überblick" 3/2006): Es wäre viel gewonnen, wenn bei allen Aussagen über Afrika zwischen den Bürgern und den Politikern unterschieden würde. "Viele Politiker denken in erster Linie an sich, sind an Erster-Klasse-Tickets mehr interessiert als an Erster-Klasse-Schulen, sie füllen ihre Taschen und betrachten die Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung als Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Um an der Macht zu bleiben, schrecken manche vor nichts zurück, bis hin zum Völkermord." Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Chancen politischer Eliten, sich in dieser Form zu bereichern und dabei auch noch ihre Macht zu sichern, im Kielwasser der wachsenden Weltmarktkonkurrenz zwischen den OECD- und den großen Schwellenländern noch weiter steigen als dies im "Krieg gegen den Terror" ohnehin schon geschehen ist.
"der überblick" plädiert aber nicht nur für eine Unterscheidung zwischen Politik und Gesellschaft in Afrika, sondern zum Beispiel auch gegenüber den USA und der US-Christenheit (Renate Wilke-Launer, "der überblick" 2/06) – mit vollem Recht, denn die gesellschaftliche Entwicklung in den USA ist für die Weltentwicklung von zentraler Bedeutung. Sie keiner genaueren Betrachtung für würdig zu erachten, läuft dementsprechend auf eine verhängnisvolle Selbstverblendung hinaus. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Bemühungen der Zeitschrift, das Verhältnis der Traditionskirchen in Europa und Nordamerika zu den Evangelikalen zum Gegenstand einer Sachdebatte zu machen – nicht zuletzt auch deshalb, weil 70 Prozent aller Evangelikalen zu Gemeinden außerhalb Nordamerikas und Europas gehören.
Die Zeitschrift hat auch um die schwierigsten Themen keinen Bogen gemacht, so zum Beispiel die Frage, was die Verrechtlichung des Umganges mit Unrechtserfahrungen für die Überwindung von Gewalt bedeutet. In ihrer vorletzten Ausgabe hat sie dieses Thema unter der Überschrift "Gerechtigkeit nach Konflikten" in einer Art und Weise behandelt, die alle Hoffnung, die der Leser bezogen auf dieses Thema hegen mag, in Bedrängnis bringt und sie trotzdem – auf der Grundlage eines fundierteren Urteils – stärkt.
Über solche Themen der ökumenischen Begegnung und der internationalen Zusammenarbeit hinaus hat "der überblick" immer wieder völlig unerwartete Perspektiven auf die Entwicklungstendenzen der Weltgesellschaft eröffnet. Dazu gehören die Berichte über Tod und Trauerkultur, über das Leben hinter Gittern und – sozusagen auf der anderen Seite des menschlichen Daseins – über das universelle Streben nach Schönheit in den unterschiedlichsten Kulturen. Das vorliegende letzte Heft über die Orte, an denen Weltgesellschaft sich in Form von Einkaufspassagen konstituiert, geht in die gleiche Richtung.
Die Zeitschrift "der überblick" steht bei all dem für den Versuch, durch eine entsprechende Einwerbung von Autoren und Texten ein Bild der Diskurse zu vermitteln, die auf internationaler Ebene zu den jeweiligen Themen geführt werden. Es wird also nicht nur über unterschiedliche Sichtweisen auf ein Thema und entsprechende internationale Kontroversen berichtet, beide werden in den jeweiligen Themenheften unmittelbarer vorgeführt. Durch dieses Angebot hat "der überblick" seine Leser immer wieder neu angeregt, sich der Mühe zu unterziehen, genau hinzuschauen, wenn es um kontroverse Themen geht, ohne damit den Überblick zu verlieren. Das hat allerdings nicht verhindern können, dass "der überblick" nun selbst verloren geht. Die EKD macht es sich und den in ihr versammelten Christen damit ein ganzes Stück schwerer, die Gratwanderung zu bestehen, zu der das Bemühen um Weltverantwortung uns führt.
Weltverantwortung der Kirchen und Christen bezeichnet heute in erster Linie die Arbeit an der Aufgabe, Gewalt einzuhegen, ohne zu diesem Zweck die Anwendung von immer neuer Gewalt zu rechtfertigen, und die Idee der Gerechtigkeit hochzuhalten, ohne in ihrem Namen immer neue Ungerechtigkeiten in Kauf zu nehmen. Weltverantwortung in diesem Sinne kann von den Kirchen und den in ihnen versammelten Christen nur in Anspruch genommen werden, wenn sie sich als Teil der Verhältnisse verstehen, für deren Veränderung sie eintreten, und bereit sind, die eigene Verstrickung in diese Verhältnisse zum Thema ihrer Weltverantwortung zu machen.
Konflikte und Widersprüche im eigenen Denken und Handeln dürfen nicht dogmatisch neutralisiert oder in Tagesroutinen eskamotiert werden, man muss sie sich selbst bewusst machen, um daraus eine Sprache zu entwickeln, mit der man den Anderen/die Andere erreicht. "Wie lange habe ich gebraucht," schreibt Klaus Rieth in der Meditation des "überblick" 3/2006, "bis ich verstanden habe, dass man den Bischöfen im Süden teure Autos zur Verfügung stellen muss, damit sie gegenüber den Repräsentanten der anderen Religionen angemessen auftreten könne. Dass auch unsere Bischöfe in Deutschland Nobelmarken fahren müssen, damit sie Gesprächspartnern in Wirtschaft und Politik 'auf Augenhöhe' begegnen können. Was würde passieren, wenn wir diese Augenhöhe nicht mehr hätten? Wenn die Begegnungen nicht mehr im zwölften Stock des Verwaltungshochhauses klimatisiert und auf weichen Teppichen stattfinden würden, sondern in der engen Zwei-Zimmer-Wohnung des Hartz IV-Empfängers an der lauten und schmutzigen Ausfallstrasse?" Das ist eine Kernfrage christlicher Weltverantwortung. Wir sollten uns hinsetzen und über sie nachdenken – mit dem letzten Heft des "überblick" in der Hand.
aus: der überblick 04/2007, Seite 77
AUTOR(EN):
Lothar Brock
Lothar Brock ist Professor Emeritus für Politikwissenschaft der Universität Frankfurt a. M., Vorsitzender der EKD-Kammer für nachhaltige Entwicklung und Mitherausgeber der Zeitschrift "der überblick".