Arbeitskräfte statt Arbeitnehmer
Brasilien kämpft bei der Berufsausbildung mit verschiedenen Problemen. Einerseits muss es in die Grundbildung investieren, denn 13 Prozent der Arbeitnehmer können weder lesen noch schreiben. Andererseits muss das Berufsbildungssystem reformiert werden, um mehr Brasilianern eine Ausbildung zu ermöglichen. PLANFOR, der nationale Berufsbildungsplan verbindet seit 1995 Arbeitsvermittlung, Berufsqualifizierung und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Bisher ist das Vorhaben jedoch wenig erfolgreich.
von Gilberto Calcagnotto
Die Globalisierung hat Brasilien auf dem falschen Fuß erwischt: Der Ausbildungssektor für seine Arbeitnehmerschaft war nicht nur falsch programmiert, ihr fehlte größtenteils auch noch ein "Standard- Betriebssystem". Neun Millionen Arbeitnehmer, also fast 13 Prozent aller Arbeitnehmer, waren im Jahr 1999 Analphabeten. Knapp 47 Prozent der Arbeiter hatten keinen Grundschulabschluss - in Brasilien die achte Klasse. Mit anderen Worten, sechs von zehn Arbeitnehmern fehlte eine elementare Voraussetzung für die produktive Eingliederung in den Arbeitsprozess. Und lediglich jeder vierte Arbeitnehmer hatte die elfte Klasse abgeschlossen und damit eine Grundlage für die berufliche Spezialisierung.
Dies bedeutet: Zugleich mit der Suche nach neuen Lernprogrammen muss in Brasilien auch noch die Wissensgrundlage auf Grundschulniveau aufgeholt werden. Dies ist ein doppeltes Problem für einen Staat, der finanziell chronisch überfordert ist. Sein Privatsektor ächzt unter der Steuerlast, die inzwischen rund 34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht. Und seine Gewerkschaften sind seit 1940 mit einem staatlichen Korsett versehen, so dass sie ihre Forderungen gegenüber der Privatwirtschaft nur unzureichend durchzusetzen vermögen.
Doch der "schlafende Riese" - "ewig liegend auf wunderbarem Bett", wie es in der brasilianischen Nationalhymne heißt - blieb, angestachelt durch die Herausforderungen der Globalisierung, nicht untätig. Die wirtschaftlich wie politisch diskontinuierliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte führte nicht nur durch Täler der Tränen und mehrere Ebenen der Stagnation, sondern auch zu (wenigen) Gipfeln ökonomischen Wachstums.
Die turbulenten Jahre der Militärdiktatur wurden durch eine allmähliche politische Liberalisierung noch innerhalb des autoritären Systems, durch die rasche Demokratisierung unter den Zivilregierungen von Sarney und Collor 1985-1992 und durch die demokratische Konsolidierung unter Cardoso (1995-2002) abgelöst. Das von der Kolonialzeit geerbte Problem Nummer Eins Brasiliens war der Ausschluss der Volksmassen aus der Lebensgemeinschaft und dem Wohlstand einer elitären Gesellschaft, deren erste Universität erst Anfang des 19. Jahrhunderts durch den König von Portugal gegründet wurde. Die in Unwissenheit gehaltenen Menschen waren durch die Zuckermonopolwirtschaft der Kolonialzeit leichter auszubeuten und für die Sklavenhaltergesellschaft der ersten sieben
Jahrzehnte der Unabhängigkeit (1822 bis 1888) leichter zu beherrschen. Für die ersten Jahrzehnte der brasilianischen Industrialisierung im 20. Jahrhundert waren für eine Vielzahl der Arbeitnehmer eine minimale Ausweitung der Alphabetisierungsrate und eine gezielte, schmalspurige Berufsausbildung - zumal direkt am Arbeitsplatz - durchaus ausreichend, während daneben eine relativ kleine Gruppe in Universitäten und Fachschulen eine anspruchsvollere Berufsausbildung erzielen konnte.
Die Zweiteilung der brasilianischen Gesellschaft fand also auch in der Berufsausbildung einen getreuen Niederschlag. Institutionalisiert wurde diese Zweiteilung bereits in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der Gründung eines privaten Berufsbildungssystems mit einem staatlich garantierten Beitragseinzug: das "Systems S" - wobei "S" für serviço - Dienst steht. Dieser berufsbildende Lehrdienst wurde durchgeführt von den Aus- und Weiterbildungsorganisationen der Industrie (SENAI) und des Handels (SENAC). Später kamen SENAR und SENAT hinzu , die für Ausbildungen in der Landwirtschaft und im Transportsektor zuständig sind.
Die Qualifizierung wurde auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt: Es wurde eine Zwangsabgabe in Höhe von einem Prozent der Lohnsumme erhoben. Dadurch errangen die Lehrbetriebe über Brasilien hinaus den Ruf von "Referenzzentren" beruflicher Qualifizierung. Zwar wurde dieses System wegen seines elitären Charakters und seiner autoritären Pädagogik insbesondere von Arbeitnehmern beständig unter Beschuss genommen, doch insgesamt wird das "System S" wegen seiner hohen Qualität anerkannt. So gilt ein SENAI-Diplom seit Jahrzehnten praktisch als eine Anstellungsgarantie.
Neben diesem privaten Berufsbildungssystem wurde das System öffentlicher Berufs- und Fachhochschulen aufgebaut, das im Lauf der Jahre dreistufig strukturiert wurde: Die Zulassung zur Grundstufe ist für jeden Teilnehmer frei. Für den Einstieg in die Mittelstufe der Fachausbildung (nível técnico) müssen die Teilnehmer hingegen einen Abschluss der elften Klasse vorweisen können. Die dritte Stufe, die technologischen Schulen sind denjenigen mit Hochschulniveau vorbehalten.
Entsprechend dem grundsätzlichen Merkmal der brasilianischen Gesellschaft besteht auch hier das Problem, dass ein Zugang für die Allgemeinheit fehlt: 1996 waren 4,9 Millionen Berufsschüler in irgend einer Berufsschule des privaten oder öffentlichen Systems eingeschrieben. Auf das "System S" entfielen immerhin 3 Millionen, auf die staatlichen Fachschulen 700.000 und 1,2 Millionen auf das gezielt für Arbeitslose sowie von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer aufgestellte PLANFOR. Damit konnten bei weitem nicht alle der 11,4 Millionen Männer und 6 Millionen Frauen erreicht werden, die 1995 nicht qualifiziert ausgebildet waren. Im "ökonomisch aktiven" Alter zwischen 10 und 24 Jahren hatten sogar 22,2 Millionen Menschen keine qualifizierte Ausbildung.
Das Missverhältnis fällt noch gravierender aus, wenn man die Daten der 1999 zum ersten Mal durchgeführten Zählung des Berufsbildungssystems heranzieht: Demnach waren lediglich 2,8 Millionen Menschen in allen drei Stufen des Berufsbildungssystems eingeschrieben: der Großteil in der Grundstufe (2 Millionen), 717.000 in der Mittelstufe und nur 97.000 in der Hochschulstufe. Nach Sektoren aufgegliedert entfiel der größte Anteil - wenig überraschend - nicht auf die Industrie, sondern mit 68 Prozent aller Auszubildenden auf den Dienstleistungsbereich. Der Agrarsektor und der Handel wiesen mit 4,1 Prozent und 3 Prozent die geringsten Anteile auf.
Mit der Globalisierung verschärften sich die Berufsbildungsprobleme gerade wegen der fehlenden Basis an Grund- und Mittelschulwissen. Das Angebot vom "System S" wuchs explosionsartig: Allein zwischen 1985 und 1993 sprang die Zahl der Immatrikulierten in São Paulo von 278.000 auf 865.000, das waren pro Jahr 15 Prozent Zuwachs. Gleichzeitig griff der Staat 1990 eine neue Berufsbildungspolitik mit Programmen zur Förderung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit auf. Er schuf einen Fonds zur Finanzierung von Schutzprogrammen für Arbeitnehmer (Fundo de Amparo ao Trabalhador), in den Unternehmer und Arbeitnehmer einzahlen. Der Fonds wird zu gleichen Teilen durch Vertreter von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Arbeitsministerium autonom verwaltet. Die Programme werden dezentral durch ebenfalls paritätisch besetzte Gremien auf Landes- und Gemeindeebene umgesetzt.
1995 kam der oben genannte Nationale Berufsbildungsplan PLANFOR hinzu, der unterschiedliche Aufgaben wie Arbeitsvermittlung, Berufsqualifizierung, Schaffung von Arbeitsplätzen und Informationen zum Arbeitsmarkt in ein Netz aus Kommissionen auf Bund-, Landes- und Gemeindeebene einbindet. Im Rahmen dieser mittlerweile über 2600 Kommissionen (mit über 25.000 Mitgliedern) werden berufsqualifizierende Programme in Höhe von umgerechnet 352 Millionen US-Dollar im Jahresdurchschnitt finanziert.
Trotz der privaten und öffentlichen Anstrengungen fallen die Ergebnisse schon rein quantitativ im Weltvergleich zurück: Mit der als Beispiel angeführten stürmischen Entwicklung in São Paulo zwischen 1985 und 1993 erhöhte sich das Angebot an berufsbildenden Unterrichtsstunden von 1 Prozent aller Arbeitsstunden auf lediglich 1,5 Prozent, gegenüber 6 Prozent im Weltdurchschnitt und gar 10 Prozent in Japan.
Auch in qualitativer Hinsicht lässt das Angebot noch viel zu wünschen übrig. Bemängelt wird insbesondere die allzu enge Ausrichtung des neuen Angebots auf die unmittelbaren Bedürfnisse einzelner Unternehmen, die dank besonderer Abkommen mit dem "System S" den Löwenanteil an den angebotenen Kursen halten.
Die der CUT angeschlossenen Gewerkschaften kritisieren am bestehenden Berufsbildungsangebot gerade die Schmalspurigkeit der Berufsbildungsprogramme des "Systems S" und auch die Eingleisigkeit der neuen öffentlichen Bildungspolitik. Die CUT (Central Única dos Trabalhadores) ist die Einheitszentrale der Arbeitnehmer, die sich durch eine besonders staatsunabhängige und kämpferische Haltung auszeichnet. Die inhaltliche Ausrichtung des privaten Berufsbildungssystems übergehe das Problem fehlenden Grund(schul)wissens und sei lediglich darauf aus, Arbeitskräfte statt Arbeitnehmer auszubilden. Damit trage es dazu bei, die Konflikte zwischen Arbeitgeber und -nehmern zu verschärfen.
Dem öffentlichen Konzept zur neuen Berufsbildungspolitik PLANFOR werfen die CUT-Gewerkschaften vor, die staatliche Rolle zugunsten des Privatsektors zurückzunehmen und die Bedingungen zur fortschreitenden Privatisierung des staatlichen Bildungssystems zu schaffen. Damit stelle der Staat den Markt in die Mitte und beschleunige Prozesse sozialer Ausgrenzung, die durch die schnellen technologischen Veränderungen verstärkt werden. Wesentlich sei es, die Grunderziehung mit der Berufsausbildung zu verzahnen und das Bewusstseins bezüglich der sozialen Rechte von Arbeitnehmern als Staatsbürger zu schärfen.
Fortschritte im Prozess der Demokratisierung gestehen die CUT-Gewerkschaften den PLANFOR-Kommissionen durchaus zu. Doch müssen diese ihrer Meinung nach erst in "legitime Arenen des Kampfes" verwandelt werden. Sicher werden in den nächsten Jahrzehnten die Berufsbildung und -erziehung im Zeichen politischer Partizipation stehen.
Ein Signal in diese Richtung setzte der im Oktober 2002 gewählte Staatspräsident und ehemalige Arbeiterführer Lula da Silva, indem er den ehemaligen CUT-Vorsitzenden Jair Meneguelli zum neuen Präsidenten des Nationalen Rates vom Sozialdienst im "System S" benannt hat, auch wenn dieser nicht direkt für die Berufsbildung zuständig ist.
Um es wieder in der Computersprache auszudrücken: Die Arbeit in Beschäftigungskommissionen wird in den nächsten Dekaden sicher zu einem der wichtigsten Instrumente werden, mit denen in Brasilien berufsbildende Anwendungsprogramme und Betriebssysteme kompatibel gemacht werden.
aus: der überblick 01/2003, Seite 45
AUTOR(EN):
Gilberto Calcagnotto:
Gilberto Calcagnotto ist Brasilien-Referent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg.