Gleichgültigkeit und Arroganz im Umgang mit der Gewalt im neuen Südafrika
Die Szene: ein kleines Restaurant in einem friedlichen Vorortviertel von Somerset West in der Nähe von Kapstadt, an einem ruhigen Werktagsabend. Es ist ziemlich spät. Einige Leute sind schon nach Hause gegangen, andere machen sich bereit, das Lokal zu verlassen. Noch etwa ein Dutzend Gäste sind im Restaurant, darunter meine Tochter Sonja und ihr Mann Graham. Sie sprechen über ihre beiden kleinen Kinder, wie sie die Winterferien, die gerade begonnen haben, verbringen könnten. Und sie lassen noch einmal den Empfang vom frühen Abend bei der Französischen Botschaft Revue passieren. Zu diesem Empfang waren sie zusammen mit uns gegangen, um die Spieler der französischen Rugby-Mannschaft zu treffen, die an diesem Samstag gegen das südafrikanische Springboks-Team antreten würden. Die Welt ist ein angenehmer, entspannter und wohltuender Ort. So scheint es.
von André Brink
Ein plötzlicher Tumult unterbricht ihre Unterhaltung. Fünf Männer mit Pistolen stürmen das Restaurant. Sie brüllen Befehle und Anweisungen, die in dem Durcheinander ihrer Stimmen zunächst kaum zu verstehen sind und verteilen sich so im Raum, dass sie alle Anwesenden im Visier haben. Die nächsten fünf bis zehn Minuten sind ein einziger Tumult von widersprüchlichen Eindrücken.
Zuerst befiehlt man den Gästen, sich hinzulegen und "zu schlafen". Fast sofort wird angeordnet, wieder "aufzuwachen". Ein Mann, der zu protestieren versucht, wird auf der Stelle angegriffen, niedergegeschlagen und brutal ins Gesicht getreten. Dann kommt der Befehl, Ringe und Schmucksachen abzulegen und auch die Uhren, Handys und Portemonnaies; als die Sachen ausgehändigt werden, wird wahllos auf die Frauen und auf die nicht so kräftigen Männer eingeschlagen; die stämmigeren Männer lässt man aus irgendeinem Grund in Ruhe.
Der Geschäftsführer wird zur Herausgabe der Tresor-Schlüssel gezwungen, die Registrierkasse zertrümmert. Dann werden alle Anwesenden in einen kleinen fensterlosen Lagerraum im Hinterhaus gepfercht und eingeschlossen. Draußen geht der Tumult weiter, während die Räume durchsucht und verwüstet werden.
Es stellt sich heraus, dass es dem Manager des Lokals irgendwie gelungen ist, sein Handy in seinen Schuh gleiten zu lassen. Zitternd, aber beherrscht, wählt er 10111, die Notrufnummer der Polizei. Seufzer und gedämpfte Äußerungen der Erleichterung um ihn herum. Das ist der Augenblick, in dem das Drama in eine düstere Farce umschlägt. Dreimal wird das Gespräch bei der Polizei in die Warteschleife gelegt. Jedes Mal wird der Manager von Neuem aufgefordert, Namen und Adresse anzugeben, bevor er mit jemand anderem verbunden wird, der die Prozedur wiederholt. Als die Polizei endlich am Ort des Geschehens eintrifft, sind die Gangster längst über alle Berge. Es dauert etwa vier Stunden, bis sich Sonja und Graham zusammen mit den anderen Geiseln endlich auf den Weg nach Hause machen können.
Abgesehen von einem einzigen Absatz auf der Innenseite des kleinen Lokalblattes wird der Vorfall nicht einmal von der Presse erwähnt. Er ist zu unbedeutend, zu banal, zu alltäglich im Neuen Südafrika. Niemand ist tot, niemand wurde vergewaltigt. Der Vorfall wird nicht einmal in der Kriminalitätsstatistik auftauchen.
Auf ihrem Nachhauseweg kommen Sonja und Graham unter einer Straßenlaterne an einem Zeitungsposter vorbei, auf dem das strahlende und bärtige Gesicht von Charles Nqakula in Großformat abgebildet ist, dem für die Sicherheit verantwortlichen Polizeiminister. (Dabei geht mir durch den Kopf, dass ein für die Sicherheit verantwortliches Ministerium in Südafrika ebenso viel Sinn macht wie ein Seefahrtsministerium in der Schweiz oder ein Justizministerium in den USA unter der Regierung von George W. Bush.)
Nach einer bislang eher unbedeutenden Karriere als Politiker ist Herr Nqakula kürzlich mit der Bemerkung in die Schlagzeilen geraten, dass ihn die weit verbreiteten Klagen über die herrschende Gewalt nicht interessierten, und dass Leute, die über das Ausmaß der Gewalt jammerten, meistens Weiße seien, die besser daran täten, das Land zu verlassen.
Der Proteststurm gegen diese fast schon kriminelle Gleichgültigkeit erreichte seinen Höhepunkt, als Nqakula im Parlament vorgehalten wurde, dass die Art, wie der Minister den landesweiten Zorn über die Gewalt abtue, die Erinnerung an die berüchtigte Bemerkung Jimmy Krugers nach dem Tod von Steve Biko im September 1977 wach rufe. Der damalige Justizminister Kruger hatte gesagt, der Mord an Steve Biko durch Beamte der Sicherheitspolizei "lasse ihn kalt".
In seiner Antwort auf diese Vorhaltungen machte Nqakula alles noch schlimmer: Er beharrte darauf, dass er absolut keine Ahnung habe, wer dieser besagte Jimmy Kruger sei; dieser Name sei lediglich als Unterschrift unter einem Schriftstück aufgetaucht, mit dem damals der Bann über ihn verhängt worden sei.
Nun rechnet man natürlich bei einem Politiker mit Ausfällen in Sachen Intelligenz oder gar gesundem Menschenverstand. Und die Erfahrung in jüngerer Zeit hat gelehrt, dass Herr Nqakula über beides verfügt: ein begrenztes Verständnisvermögen und eine unbegrenzte Fähigkeit zur Arroganz. Er scheint nicht in Betracht zu ziehen, dass seine erklärte Ignoranz in Sachen Jimmy Kruger auch Ignoranz bezüglich des Lebens und Sterbens von Steve Biko bedeutet. Ganz sicher kann es die eine Erinnerung nicht ohne die andere geben.
Und das könnte der Schlüssel für das Skandalöse an Nqakulas Verhalten sein. Er kennt seine eigene Geschichte nicht. Und deshalb verrät er alles, wofür der ANC immer ausdrücklich gestanden hat eine Gesellschaft ohne Rassenbewusstsein, Zusammenarbeit und Verständnis zwischen Schwarzen und Weißen und miteinander geteilte Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft. Mit einer einzigen gleichgültigen, aus dem Ärmel geschüttelten Bemerkung hat er Mandelas Erbe verraten.
Natürlich sind nicht alle Vertreter des Machtapparats wie er. Es gibt andere Regierungsmitglieder, die menschlich, großzügig und verständnisvoll sind und ihre bemerkenswerten Begabungen dafür einsetzen, den Traum von Mandela wahr werden zu lassen. Aber unglücklicherweise ist Nqakula auch keine Ausnahme. Ich erinnere mich an einen Besuch in einem Supermarkt, kurz nach dem politischen Wechsel im Land. Ich fuhr eine schmale Einbahnstraße neben dem Hauptgebäude entlang, zur Parkgarage auf der Rückseite. Auf halbem Wege musste ich anhalten, weil mir ein Wagen entgegenkam. In diesem Wagen befanden sich vier oder fünf sehr kräftig gebaute Männer in dunklen Anzügen. Ich drehte mein Wagenfenster herunter, lehnte mich heraus und erklärte sehr höflich, denn sie sahen sehr kräftig aus , dass dies eine Einbahnstraße sei. Woraufhin der Fahrer erwiderte: "Wir sind Parlamentsabgeordnete, wir haben Durchfahrtsrecht." Ich versuchte, so beherrscht wie möglich zu bleiben, schaltete den Wagen ab, stieg aus, schloss die Tür und ging weg im vollen Bewusstsein, dass ich ein ziemliches Risiko einging. Aber als ich etwa zehn Minuten später vorsichtig zurückkam, war das unverschämte Auto weg. Ich mag diese Runde gewonnen haben, aber sie ihrerseits hatten deutlich gemacht, was Sache ist. Und Nqakula ist ihnen sicher ein würdiger Nachfolger.
In den Reihen der neuen Machtelite in Südafrika scheint seine Einstellung an Boden zu gewinnen, und zwar in direkter Verbindung zur wachsenden Gewalt im Land. Man ignoriert die schwerwiegenden Probleme die überhandnehmende Kriminalität, die HIV/Aids-Pandemie, die Armut und die Entbehrungen; am meisten, so scheint es, kümmert man sich darum, für sich, die Familie und die Freunde Geld zu machen; man Ölt die Räder des gravy trains (ein in Südafrika häufig verwendetes Bild für Korruption im Amt die Red.), egal ob dieser über die Leichen der Opfer von Mord, Vergewaltigung und Gewalt rollt. Und denen von uns, die zu protestieren wagen, gibt man den Rat, den Mund zu halten oder zu verschwinden.
Das Pech für Nqakula ich werde nicht verschwinden; und zwar nicht deshalb, weil man, wenn man wie er auf der richtigen Seite der Macht steht, hier leicht reicher und fetter werden kann, sondern weil dies das Land ist, wo ich geboren bin, das Land meiner Vorfahren. Und zufälligerweise liebe ich es in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod uns scheidet. So, wie es im Land gegenwärtig aussieht, kann es sein, dass mich der Tod eher früher als später ereilt. Aber wie Sonja am Morgen nach dem Überfall gesagt hat: "Ich weigere mich, ein Opfer zu werden."
Das Problem ist nur Folgendes: Solche Vorfälle (mit all den psychologischen und körperlichen Narben, die monate- und jahrelang zurückbleiben) sind zwar charakteristisch für die gegenwärtige Entwicklung in Südafrika, aber das eigentliche Problem, unter dem unsere junge Demokratie leidet, ist damit noch nicht angesprochen. Der aufgeblasene Jacob Zuma, ehemals Vizepräsident des Landes mit dem unverfrorenen Ehrgeiz, der nächste Präsident zu werden, glaubt, er könne die Gefahr einer HIV-Aids-Infektion aus der Welt schaffen, wenn er nach ungeschütztem Sexualverkehr eine Dusche nimmt.
Nqakula wäscht seine Hände in Unschuld, wenn es um Vergewaltigung und Mord geht, indem er behauptet, die einzigen "Jammerlappen", die ein Geschrei anstimmten, seien die ehemals privilegierten Weißen, die sich mit dem Wechsel zur Demokratie nicht abfinden könnten.
Für ihn ist es leicht, das Schicksal der unzähligen Opfer zu ignorieren seien sie schwarz, braun oder weiß; sie leben in Townships, wilden Siedlungen und Squattercamps, und ihre Hilfeschreie sind über all die Jahre hinweg ungehört verhallt. Aber was verloren gegangen ist, ist nicht nur eine ganze Generation von ermordeten, verstümmelten und verelendeten Menschen, sondern verloren ist auch die Gelegenheit, eine Demokratie aufzubauen, die wie man es ja einmal von ihr behauptet hat beispielhaft hätte sein können für die ganze Welt.
"Jedenfalls sollten wir dankbar sein, dass wir noch am Leben sind", sagte Sonja trocken nach ihrem Überfall-Erlebnis. Merkwürdigerweise war es diese Bemerkung, die mich am meisten in Rage brachte. Was für ein Land ist das, in dem das Leben nicht einfach als gegeben betrachtet werden kann, eine Normalität, ein Zustand, der garantiert ist (unter anderem auch durch unsere bewundernswerte Verfassung), sondern in dem die Tatsache, am Leben zu sein, etwas Außergewöhnliches und Bemerkenswertes ist, ein Privileg, das so außerordentlich ist, dass es besondere Dankbarkeit verdient?
Für mich hat diese kleine "unbedeutende" Episode, zusammen mit der unverhüllten Arroganz des Ministers, in meinem Nachdenken über das Neue Südafrika einen Einschnitt bedeutet. Als während der dunklen Jahre der Apartheid der ANC gebannt und ins Exil vertrieben war und man ihm nicht erlaubte, seine Sache öffentlich vor der Bevölkerung Südafrikas zu vertreten, da sah ich es als meine Aufgabe als Schriftsteller an, das auszudrücken, was die zum Schweigen gebrachten Menschen nicht mehr auszusprechen wagten. Ich sah es als meine Pflicht an, das auszusprechen, was verboten war, um sicherzustellen, dass die Wahrheit ans Licht kommen konnte.
Wann immer man mich in den letzten Jahren auf meinen Reisen nach den vielen Missständen im Neuen Südafrika gefragt hat, habe ich darauf bestanden, dass man sie zwar nicht leugnen könne, sie aber nur das Treibholz auf der Oberfläche eines starken positiven Stroms seien, der in die richtige Richtung fließe. Ich habe keine Mühe gescheut, um klar zu machen, was für ein dramatischer Wandel in diesem Land stattgefunden hat, wenn man unsere heutige Situation mit der von vor zwölf Jahren vergleicht, mit der Zeit der ersten freien Wahlen. Und ich habe klar gemacht, dass es gute Gründe gibt, grundsätzlich wenn auch vorsichtig optimistisch zu sein.
Das kann ich nun nicht länger. Das wäre ein Verrat an den wichtigsten Werten, an die ich glaube, Werte, die auch einmal der Traum des ANC waren. Durch Leute wie Nqakula, die jetzt das Bild vom ANC zu prägen beginnen, fühle ich mich im Stich gelassen. Die Gewalt, die wir gegenwärtig erleben, und die schlimmer wird von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, ist zum wesentlichen Charakteristikum unserer neuen Gesellschaftsordnung geworden. Es scheint der politische Wille zu fehlen, sie von oben her zu kontrollieren.
Die erschütternde Gleichgültigkeit, mit der Leute wie Nqakula argumentieren und denken, erlaubt es, ja ermutigt sogar dazu, dass die Gewalt weitergeht und schlimmer wird. Und solange die Regierung und der Präsident ihr nicht entschlossen entgegentreten und beginnen, entschieden zu handeln, wird unsere kurze Hoffnung über die letzten 12 Jahre hin vergeblich gewesen sein.
Man fragt sich, wie lange die FIFA noch in Betracht ziehen kann, im Jahr 2010 Fußball-Teams zu einer Weltmeisterschaft zu schicken, die in einem Land ausgetragen wird, das nicht einmal imstande ist, die Sicherheit von Spielern, Funktionären und Zuschauern zu garantieren, sodass die Spiele, die doch ein festliches Weltereignis sein sollen, in ein Massaker ausarten könnten.
Das kann Herrn Nqakula natürlich gleichgültig sein. Er hat schließlich seinen Preis in den Zeiten des Untergrundkampfes bezahlt, nicht wahr? Als andere gefoltert und ermordet wurden, hat auch er gelitten. über ihn wurde der Bann verhängt. Erinnern wir uns: Er wurde verfolgt mithilfe eines Stück Papiers, unterzeichnet von einem Mann, den der Tod eines Mitmenschen kalt ließ genauso wie das jetzt bei Nqakula selbst der Fall ist. Ihn lässt das Leiden und der Tod unzähliger südafrikanischer Mitbürger ebenfalls kalt, Menschen, die nur den Wunsch hatten, die Segnungen eines großzügigen Landes zu genießen, in einer vorbildhaften Demokratie zu leben.
Ebenso wie seine Kollegin, Gesundheitsministerin Manto Tsabalala-Msimang, die einfach so daherplappert und sagt, dass man HIV/Aids mit einem Gebräu von wildem Knoblauch und Kräutern heilen könne, ist auch der ehrwürdige Polizeiminister nur daran interessiert, den Wohlstand einer kleinen Clique von Kollegen und Vertrauten zu sichern, ein Wohlstand, der auf dem Leiden und den Entbehrungen der großen Mehrheit der Bevölkerung beruht.
Es ist noch nicht zu spät, die Werte, die dem neuen Südafrika Gestalt gegeben haben, zu retten. Ich meine nicht die Werte, die so monströse Figuren wie Nqakula, Zuma und Tsabalala-Msimang hervorgebracht haben, sondern solche, aus denen ein Mandela oder ein Tutu hervorgegangen sind. Aber viel Zeit haben wir nicht mehr zu verlieren.
aus: der überblick 03/2006, Seite 54
AUTOR(EN):
André Brink
André Brink ist Autor und Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Kapstadt, Südafrika.