In Osttimor stößt die Durchsetzung des Völkerstrafrechts an politische Grenzen
Die indonesischen Hauptschuldigen an den Menschenrechtsverletzungen vor der Unabhängigkeit Osttimors bleiben von der Strafverfolgung verschont. Die timoresische Politik und Justiz wollen sich nicht mit Indonesien anlegen. Denn für den Wiederaufbau braucht man gute Wirtschaftsbeziehungen mit dem mächtigen Nachbarland.
von Leonie von Braun
Der Befehl, den ehemaligen Verteidigungsminister Indonesiens, General Wiranto, zu verhaften, hätte zu keinem heikleren Zeitpunkt erlassen werden können. Wiranto bestritt im Mai 2004 gerade als aussichtsreichster Kandidat den ersten demokratischen Präsidentschaftswahlkampf in der Geschichte Indonesiens. Nun sollte er sich vor dem Gericht der Vereinten Nationen in Osttimor (Timor Leste) für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten.
Als Oberkommandierender der indonesischen Streitkräfte im Jahr 1999, so wirft die Anklagebehörde der Vereinten Nationen vor, trage er die Hauptschuld an allen Menschenrechtsverletzungen, die in jenem Jahr in Osttimor begangen worden sind. Die Ankläger berufen sich dabei auf den im Völkerstrafrecht enthaltenen Grundsatz der Vorgesetztenverantwortlichkeit: Mit Wissen und Wollen habe er es unterlassen, seine Soldaten und die osttimoresischen Milizen von den Verbrechen gegen Zivilisten abzuhalten. Das Gericht übergab den Haftbefehl dem zuständigen osttimoresischen Staatsanwalt. Dieser wäre verpflichtet gewesen, ihn an Interpol weiterzuleiten. Dann hätte General Wiranto damit rechnen müssen wenn er schon nicht im eigenen Land belangt wird , auf Auslandsreisen verhaftet zu werden.
Aber der General blieb verschont. Osttimors Regierung hat sich gegen die Weiterleitung dieses Haftbefehls entschieden. Auch die internationale Gemeinschaft drängte nicht darauf, dass der osttimoresische Staatsanwalt zur Tat schreite. Vielleicht hat Wirantos zweifelhafte Vergangenheit zu seiner Niederlage in der indonesischen Präsidentschaftswahl beigetragen. Aber nach wie vor hat er eine einflussreiche Rolle in der dortigen Gesellschaft und Politik. Deshalb muss er eine Auslieferung an das Gericht in Osttimor nicht befürchten. Soweit der jüngste seltsame Verlauf der Geschichte Osttimors.
Angefangen hat alles, als Portugal nach der »Nelkenrevolution« seiner Streitkräfte im April 1974 gegen den Diktator António de Oliveira Salazar seine Kolonie Osttimor überraschend in die Unabhängigkeit entlassen wollte. Das entstandene Machtvakuum aber löste einen Bürgerkrieg zwischen den für die Unabhängigkeit kämpfenden Parteien UDT und Fretilin aus. Unter dem Vorwand, den Bürgerkrieg zu beenden, marschierte Indonesiens Militär im Dezember 1975 in Osttimor ein und annektierte die Nachbarinsel im Jahr 1976. Zwischen 1974 und 1999 starben fast 200.000 Menschen an direkten oder indirekten Folgen von militärischen Aktionen der indonesischen Polizei Polri und der Armee Tentara National Indonesia. Die osttimoresische Guerillaarmee Falintil unter Führung des heutigen Staatspräsidenten, Xanana Gusmao, setzte sich bis 1999 für die Unabhängigkeit des Landes ein. Doch je erbitterter sie Widerstand leisteten, desto härter schlugen die Sicherheitskräfte zurück. Als indonesische Soldaten im November 1991 beim Friedhof von Santa Cruz Demonstranten massakrierten, war weltweit die Empörung groß und die Vereinten Nationen (UN) verurteilten die Menschenrechtsverletzungen in Indonesien.
Nach der erzwungenen Abdankung des Diktators Suharto im Mai 1998 nahm der Konflikt 1999 eine überraschende Wende: Der gerade gewählte Präsident Jusuf Habibie stellte die Selbstbestimmung des osttimoresischen Volkes in Aussicht. Gegen den erklärten Willen des indonesischen Militärs duldete Habibie, dass die UN ein Referendum organisierten, in dem die Timorer sich entweder für die Unabhängigkeit oder für den Verbleib als autonome Teilrepublik innerhalb des Staatsgefüges Indonesiens entscheiden konnten. Zur Vorbereitung des Plebiszits entsandten die UN im Rahmen der Mission UNAMET mehrere hundert Helfer nach Osttimor, um dort Wahllokale für die Stimmenabgabe einzurichten und die Bevölkerung zu registrieren. Neben Wahlbeobachtern wurden auch Polizisten aus Australien und anderen Ländern entsandt, die für einen sicheren Ablauf des Referendums sorgen sollten. Da das indonesische Militär den Vereinten Nationen in einem Abkommen zugesagt hatte, für die Sicherheit der Wahlbeobachter und der Zivilbevölkerung zu sorgen, mussten die Polizisten ihren Einsatz in Osttimor unbewaffnet aufnehmen. Als Tag der Abstimmung wurde der 30. August 1999 festgelegt.
Doch das indonesische Militär brach das Abkommen und begann noch vor dem Referendum, osttimoresische Milizen zu gründen, zu trainieren und zu bewaffnen. Diese sollten als eine Art Bürgerwehr in Bereitschaft stehen und im Konfliktfall eingesetzt werden. Auch in den anderen Provinzen Indonesiens unterhielt man derartige Truppen. Das indonesische Militär konnte sich solcher scheinbar privaten paramilitärischer Gruppen bedienen, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen. Zwischen Januar und Oktober 1999 begingen diese von indonesischen Befehlshabern gesteuerten Milizen zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen in Osttimor, um die Bevölkerung von einer Abstimmung für die Unabhängigkeit abzuhalten.
In allen Distrikten des Landes waren diese Milizen aktiv. Sie wurden finanziell, logistisch und personell durch indonesische Soldaten, Geheimdienste und die zivile Verwaltung unterstützt. Oftmals sahen indonesische Soldaten tatenlos zu, wie Angriffe auf Anhänger eines unabhängigen Osttimor verübt wurden. General Wiranto und die ihm direkt unterstellten Befehlshaber besuchten 1999 mehrfach das kleine Land. Mitarbeiter der Vereinten Nationen nutzten diese Gelegenheiten, ihnen die Gewalttaten der Milizen und die Untätigkeit der Regierungstruppen vorzuhalten. Aber die hochrangigen Militärs unterließen es auch weiterhin, die Milizen zu entwaffnen. General Wiranto sagte in einem Gespräch mit Ian Martin, dem Leiter der UN Mission in Osttimor, sogar, dass es ihn keine zwei Tage kosten würde, die Bürgerwehr zurückzurufen und die Gewalt zu beenden. Doch er machte keine Anstalten dazu. Die Wiranto direkt unterstellten Armeefunktionäre wurden mehrfach bei Treffen mit führenden Milizenmitgliedern beobachtet. Angehörige des Paramilitärs sagten später in Prozessen aus, sie hätten auf Befehl des indonesischen Militärs gehandelt, als sie die Verbrechen begingen.
Trotz der grassierenden Gewalt stimmte Osttimors Bevölkerung am 30. August 1999 mit 78 Prozent für die Unabhängigkeit ihres Landes. Doch das indonesische Militär akzeptierte das Ergebnis nicht und startete mit Hilfe der Milizen einen letzten Angriff, der aus Vertreibung, Brandschatzung und Massakern bestand. Insgesamt wurden fast 2000 Menschen darunter 11 lokale Mitarbeiter der Vereinten Nationen getötet, 250.000 Menschen nach Westtimor deportiert und fast 70 Prozent der Infrastruktur des Landes zerstört. Die Brandschatzung öffentlicher und privater Gebäude sollte die Basis beseitigen, auf der ein neuer Staat aufgebaut werden könnte. Die internationalen Wahlbeobachter von UNAMET mussten in spektakulären Rettungsaktionen evakuiert werden, sie waren selbst zur Zielscheibe der Milizen geworden. Das kleine Land stand in Flammen, als im September 1999 die UN-Schutztruppe INTERFET eintraf und die Befriedung zustande brachte.
Nach Indonesiens »Politik der verbrannten Erde« und dem Rückzug aller indonesischen Soldaten im September 1999, standen die Vereinten Nationen nun vor der Aufgabe, aus dem Nichts ein Justizsystem aufzubauen. Während der 25jährigen Besatzungszeit hatte Indonesien dem nach Unabhängigkeit strebenden Osttimor sein eigenes Staats-, Kultur-, und Wirtschaftsystem aufoktroyiert. Alle entscheidenden Ämter in Politik, Verwaltung und Justiz waren entweder mit Indonesiern oder regimetreuen Timorern besetzt worden.
In Anbetracht der zerstörten Krankenhäuser, Schulen, Justizgebäude, Gefängnisse und Regierungsgebäude wurde Osttimor zunächst unter die Verwaltung der Vereinten Nationen gestellt. Diese dauerte bis zur Unabhängigkeit am 20. Mai 2002 an. Da INTERFET schon mit Verhaftungen und der Sicherung von Beweismaterial begonnen hatte, wurde schnell klar, dass eine wesentliche Aufgabe der Verwaltung darin bestehen würde, die Verbrechen aufzuklären. Daraufhin entsandten die Vereinten Nationen mehrere Expertenkommissionen, welche die grausamen Vorfälle untersuchen sollten. Diese stellten fest, dass das indonesische Militär die Hauptverantwortung für die Gewalteskalation trage, seine Führung habe viele Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates missachtet. Vertreter der Vereinten Nationen betonten außerdem ihr ureigenes Interesse an der Strafverfolgung derer, die bei den Angriffen auf UN-Mitarbeiter beteiligt waren.
Die Experten rieten daher, eine internationale strafrechtliche Instanz nach dem Vorbild der ad hoc Tribunale des UN-Sicherheitsrates in Den Haag (Niederlande) und Arusha (Tansania) zu errichten. Nachdem Indonesien sich aber einer internationalen Gerichtsbarkeit verweigert und statt dessen eine eigene Strafverfolgung angeboten hatte, entschieden sich die UN gegen die Schaffung eines solchen Tribunals. Vielmehr sollte eine effektive Strafverfolgung der Menschenrechtsverletzungen mit dem Aufbau eines nationalen Justizsystems in Osttimor sichergestellt werden eine Entscheidung, die sich inzwischen als problematisch erweist.
In Indonesien gelangte unterdessen die nationale Menschenrechtskommission Komnas HAM ebenfalls zu der Erkenntnis, dass hochrangige Militärs strafrechtlich für die Verbrechen von 1999 verantwortlich zu machen seien und folglich die Staatsanwaltschaft tätig werden müsse. Unter den Verantwortlichen wird auch General Wiranto genannt. Indonesiens Parlament beschloss daraufhin, per Gesetz ein Gericht zu schaffen, das für die Aufarbeitung der in Osttimor begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig ist.
Fünf Jahre nach Aufnahme der ersten Prozesse ist die Bilanz der Urteile dieses Gerichts ernüchternd. Von den insgesamt 18 von der indonesischen Staatsanwaltschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten Männern Wiranto befand sich nicht darunter wurden alle entweder in erster oder in zweiter Instanz freigesprochen. Schon die in erster Instanz erlassenen Haftstrafen wurden überwiegend als zu niedrig empfunden, und die Urteile spiegelten ein verzerrtes Bild der Verbrechen wieder. Ursache für die Gewalt sei nicht eine strategische Einbindung der Milizen durch die Armeeführung gewesen, sondern ein bürgerkriegsähnlicher Zustand und eine spontane Konflikteskalation zwischen zwei sich in Osttimor streitenden Gruppierungen. Die unbefriedigenden Urteile des Gerichts in Jakarta sind vor allem darauf zurückzuführen, dass die Prozesse von der Staatsanwaltschaft unzureichend vorbereitet worden waren. So wurden die Militärs nur wegen der durch Soldaten direkt begangenen Verbrechen angeklagt, die Verbrechen der Milizen wurden ihnen nicht zugerechnet. Dass dennoch einige Vertreter des Militärs verurteilt wurden, ist einigen mutigen Richtern des Tribunals zu verdanken.
Parallel zu den in Jakarta laufenden Prozessen, begann in Osttimors Hauptstadt Dili das von den UN eingerichtete Tribunal Special Panels for Serious Crimes seine Arbeit. Dieses Tribunal stellte einen neuen Typus der internationalen Strafverfolgung dar, denn es handelt sich um ein internationalisiertes oder gemischtes Tribunal. Diese Sondergerichte gibt es zurzeit in abgewandelter Form auch in Sierra Leone und in Kambodscha. In Abgrenzung zu den rein internationalen Strafgerichtshöfen stellen diese Sondergerichte eine Verbindung aus internationalem Know-how, UN-Finanzierung und lokalem Gerichtswesen dar. Dadurch sollen die Nachteile rein internationaler Gerichte umgangen werden, die nicht nur sehr teuer und bürokratisch, sondern auch zu weit entfernt sind von den Konfliktparteien, für die sie zuständig sind. Das Phänomen einer psychologischen Distanz zwischen internationalem Tribunal und den betroffenen Gesellschaften, wie sie in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens auftritt, soll durch die Ansiedelung der Strafverfolgung im Tatort-Staat verringert werden. Durch die Bereitstellung internationaler Fachkräfte können zudem die notwendigen Kapazitäten für das lokale Justizsystem geschaffen werden.
Obwohl dieser neue Ansatz grundsätzlich positiv zu beurteilen ist, war die Etablierung dieses Modells in Osttimor von Schwierigkeiten begleitet. Die Ausbildung einheimischer Rechtsexperten verlief schleppend, so dass die Zusammenarbeit von internationalen und lokalen Fachkräften lange Zeit nur auf der Richterbank funktionierte. Die Strafverteidigung wurde im Gegensatz zur Anklagebehörde nur mit osttimoresischen Juristen besetzt, die ihrer neuen Aufgabe nicht immer gewachsen waren und ihre Mandanten nur dürftig verteidigen konnten. Von Anfang an litt das System unter chronischer Unterfinanzierung, so dass es neben Papier, Computern und Recherchematerial auch an Übersetzern, Protokollanten und Ermittlern fehlte. Die Berufungskammer zum Beispiel war über ein Jahr lang nicht funktionsfähig.
Seit 2000 hat die von internationalen Staatsanwälten geführte Anklagebehörde Serious Crimes Unit fast 400 potenzielle Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, von denen insgesamt 75 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Doch unter den Verurteilten befinden sich nur osttimoresische Milizen, da fast 300 der durch die Serious Crimes Unit angeklagten Täter ohnehin in Indonesien leben, wo sie das Militär vor einer Auslieferung schützt. Nur diejenigen, die die Grenze zu Osttimor überqueren und zurück in ihre früheren Gemeinden möchten, werden von den Strafverfolgungsbehörden erfasst. Die dadurch eher positiv erscheinende Bilanz des Sondergerichts in Osttimor bleibt von der Tatsache überschattet, dass die Hauptverantwortlichen bisher nicht vor Gericht gestellt werden konnten. In Osttimor selbst ist es vielen nicht verständlich, dass die »kleinen Fische« in Gefängnissen der Hauptstadt Dili hohe Haftstrafen verbüßen, während die entscheidenden Täter aus Jakarta sich unbehelligt frei bewegen.
Welche Schlussfolgerungerungen kann man daraus für die internationale Strafverfolgung ziehen? Wie hätte dieses unbefriedigende Ergebnis verhindert werden können? Liegt es an der Struktur des Sondergerichts als Mischgericht oder hätte auch mit dieser Strafverfolgungsform eine gerechte Lösung gefunden werden können?
Die Staatsanwaltschaft in Dili hatte acht führende Militärs Indonesiens wegen Mordes, Vertreibung und Verfolgung im gesamten Territorium Osttimors angeklagt, wobei sie sich auf den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit berief. Auch wenn sie nicht erwartet hatte, dass Indonesien einer Auslieferung der Angeklagten einwilligen würde, erhoffte man sich von einem internationalen Haftbefehl, der den Angeklagten das Reisen erschweren würde, dass zumindest die Verantwortlichkeit der indonesischen Armeeführung aller Welt vor Augen geführt würde.
Aber Protest gegen diese Anklage kam nicht nur aus Indonesiens Militärkreisen, die sich sofort mit Drohungen und Gegendarstellungen an die Öffentlichkeit wandten, sondern auch innerhalb der Vereinten Nationen wurde diese Anklageschrift mit Skepsis betrachtet. Eine UN-Pressemitteilung etwa betonte, dass nicht die Vereinten Nationen diese Anklage zu verantworten hätten, sondern die osttimoresische Justiz.
Gleichwohl hätte der zuständige Richter des Sondergerichts schon zu diesem Zeitpunkt seine Unabhängigkeit wahrnehmen und einen Haftbefehl erlassen können, der dem osttimoresischen Staatsanwalt die Weiterleitung an Interpol ermöglicht hätte. Doch der Richter verzögerte das Verfahren und stellte schließlich nur einen Haftbefehl für den Geheimdienstoffizier Sudrajat aus, der einen weitaus niedrigeren Dienstgrad hatte als der ranghöchste Angeklagte General Wiranto. Erst ein neuer Richter trieb das Verfahren 2004 wieder voran. Da zu diesem Zeitpunkt der indonesische Präsidentschaftswahlkampf auf Hochtouren lief, warf General Wiranto der Anklagebehörde vor, den Ausgang der Wahlen manipulieren zu wollen.
Und die Regierung Osttimors hält offenbar etwas anderes für wichtiger als die Aufarbeitung der Vergangenheit: Sie bemüht sich inzwischen intensiv um verbesserte Beziehungen zu seinem mächtigen Nachbarn Indonesien, mit dem ein guter Handelsaustausch unerlässlich erscheint, damit der kleine Inselstaat seine wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben kann. Je mehr sich die Vereinten Nationen aus Osttimor zurückziehen, desto mehr wird das Land auf die Kooperation mit den Nachbarländern Indonesien und Australien angewiesen sein. Als die Vereinten Nationen ihr eigenes Sondergericht nur geringfügig unterstützten und die Verantwortung vollständig an Osttimor abgaben, bestanden deshalb auch die führenden politischen und juristischen Kräfte dort kaum noch darauf, die indonesischen Generäle auf jeden Fall der Strafverfolgung zu unterziehen. Deshalb beugte sich Osttimors oberster Staatsanwalt dem Willen der politischen Elite, die eine Auseinandersetzung mit Indonesien befürchtete, und leitete im Mai 2004 den Haftbefehl nicht an Interpol weiter.
In Anbetracht des geringen Drucks der internationalen Gemeinschaft auf Indonesien, dem Haftbefehl Folge zu leisten und den Angeklagten auszuliefern, kann man es Osttimor kaum verübeln, dass es vor Konfrontationen mit Indonesien zurückschreckte. So antwortete Osttimors Staatspräsident Xanana Gusmao bei einem Gespräch in Berlin auf die Frage, warum der Haftbefehl nicht weitergeleitet werde, dass man die Suche nach Gerechtigkeit der internationalen Gemeinschaft überlassen habe und Osttimor damit nicht behelligen solle.
Wie sehr die politische Elite mittlerweile eine Strafverfolgung durch die Ankläger der Vereinten Nationen infrage stellt, zeigt ein Gesetzentwurf, über den im ostimoresischen Parlament derzeit beraten wird. Das eingebrachte Gesetz könnte nämlich eine Amnestierung aller bisher durch das Sondergericht verurteilten Täter ermöglichen.
Diese Form der politischen Einflussnahme auf die Justiz wäre im Rahmen eines rein internationalen Strafmechanismus nicht möglich gewesen. Dort sind die internationalen Ankläger unabhängig und können das ihnen in die Hand gegebene Recht durchsetzen. Das in Osttimor etablierte gemischte Gericht öffnet hingegen politischer Einflussnahme Tür und Tor, weil die internationale Anklagebehörde hier mit der nationalen Staatsanwaltschaft verflochten ist. Dass die Anklagebehörde durch eine gemischte Gerichtsform nicht automatisch ihre Unabhängigkeit verliert, zeigt das Beispiel des Sondergerichts in Sierra Leone. Dort hat der Chefankläger problemlos Haftbefehle an Interpol weitergeleitet. Hätte man in Osttimor eine von der nationalen Staatsanwaltschaft unabhängige Anklagebehörde geschaffen, wäre der Herrschaft des Rechts mehr Glaubwürdigkeit verliehen worden.
Fragt man Timorer, was sie sich von dem Strafverfolgungsprozess der UN erhoffen, ist die Antwort fast immer, die Verantwortlichen des indonesischen Militärs vor Gericht zu bringen. In einem Land, das Vertrauen in rechtsstaatliche Strukturen wie unabhängige Gerichte bisher nicht gekannt hat, sind solche Aussagen erstaunlich und die Hoffnung, die in ihnen mitschwingt, sollte nicht enttäuscht werden. Wie soll das Justizsystem in Osttimor von der Bevölkerung angenommen werden, wenn diejenigen, die die schweren Verbrechen begangen haben, nicht zur Verantwortung gezogen werden, der einfache Diebstahl aber verfolgt wird?
Das Scheitern des durch die Vereinten Nationen in Osttimor implementierten Modells verhindert nicht nur eine notwendige Vergangenheitsbewältigung und Würdigung der Opfer, sondern entzieht der jungen Demokratie auch das Vertrauen in ihre Rechtsstaatlichkeit.
aus: der überblick 01/2005, Seite 72
AUTOR(EN):
Leonie von Braun:
Leonie Freiin von Braun war als Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung mehrere Monate lang in Osttimor bei der »Serious Crimes Unit« der Vereinten Nationen. Sie arbeitet derzeit an einer Dissertation zu dem Thema.